In ihrem Tagebuch entlarvte die russische Journalistin das System Putin. | Diktatur zum Selbstzweck. | Sechs Monate ist es her, dass Anna Politkowskaja im Stiegenhaus ihres Moskauer Wohnhauses erschossen wurde. Dieser politische Mord wurde wie viele andere nie aufgeklärt. Über ihre Überlebenschancen in Wladimir Putins "gelenkter Demokratie" hatte sich die Kreml-kritische Journalistin, die gerade einmal 48 Jahre alt wurde, kaum Illusionen gemacht. "Wir wissen, wie unsere Hochmögenden ihre Wünsche durchsetzen. Sie brauchen nur leicht die Stirn zu runzeln, ihren herrschaftlichen Unmut anzudeuten, und schon überschlagen sich die Erfüllungsgehilfen", schrieb sie in ihr "Russisches Tagebuch", das nun posthum unter demselben Titel auf Deutsch als Buch erschienen ist.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 17 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
In dem letzten Werk, das sie der Nachwelt hinterließ, rechnet Anna Politkowskaja noch einmal mit Putins Politik ab. Dokumentiert hat sie die Vorgänge in ihrem Land zwischen Dezember 2003 und August 2005 - in diesen Zeitraum fallen unter anderem die zur Farce degradierte Parlamentswahl, die kurz darauf folgende Wiederwahl des Präsidenten mittels Quasi-Ausschaltung der Opposition sowie die Geiselaffäre von Beslan, bei der 331 Menschen sterben mussten, damit Putin den Sieg über die Terroristen verkünden konnte.
Der Fall Osdojew
Auch zahlreichen Fällen von extralegalen Hinrichtungen und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen, die die Sicherheitsorgane im Namen des russischen Staates begehen, spürt sie nach. So beschreibt Anna Politkowskaja das tragische Schicksal von Raschid Osdojew, eines engagierten Referenten des inguschetischen Staatsanwaltes, der von FSB-Geheimdienstagenten totgeprügelt wird, weil er Beschwerde gegen das systematische Verschwindenlassen von Menschen in der Teilrepublik eingelegt hat.
Der Fall fliegt nur deshalb auf, weil einen der Totschläger das Gewissen quält und er sich in einem Brief an den Generalstaatsanwalt beklagt, dass er auf Anweisung seines FSB-Chefs neben Osdojew noch 49 andere Menschen zu Krüppeln schlagen und 35 Leichen verscharren musste, damit das staatliche Soll erfüllt sei. Und dass er damit endlich Schluss machen wolle.
In einem anderen Fall beschreibt die Journalistin, wie die russische Armee in Dagestan ihre eigenen Anti-Terror-Einheiten bombardiert, um dann die erfolgreiche Vernichtung islamischer Banditen zu verkünden. Dagegen oder auch gegen die verheerenden sozialen Missstände im Land zu protestieren, für die die korrupte neue Politoligarchie nur ein Schulterzucken übrig hat, ist kaum noch möglich. Die Medien sind gleichgeschaltet, die Opposition marginalisiert, Parlament und Justiz wurden zu willfährigen Befehlsempfängern des Kreml degradiert. Den Verantwortlichen für die systematische Demontage der Demokratie nannte Anna Politkowskaja direkt beim Namen: Wladimir Putin. Der Ex-Geheimdienstchef habe die alte Sowjetunion in neuer Fasson wiedererstehen lassen, "ein bisschen angetüncht und aufgehübscht", aber nicht weniger zynisch und menschenverachtend. Eine Diktatur, quasi zum Selbstzweck: Denn der neuen Elite gehe es ausschließlich um den Machterhalt - und um Selbstbereicherung.
Politische Pflichtlektüre.Anna Politkowskaja: Russisches Tagebuch. Übersetzt von Hannelore Umbreit und Alfred Frank. DuMont Verlag, Köln. 458 Seiten, 25,60 Euro