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Politmord ohne Auftraggeber

Von Ines Scholz

Politik

Fünf Angeklagte des Mordes an Kreml-Kritiker Nemzow schuldig gesprochen - die Hintermänner blieben unangetastet.


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Moskau/Wien. Es war einer der absurdesten Mordprozesse, die Moskau je erlebt hat. Ermittlungen wurden behindert, Zeugeneinvernahmen torpediert, Geschworene ausgetauscht, weil sie zu gut informiert waren, Tatverdächtigen wurde zur Flucht verholfen. Dass Boris Nemzow Opfer eines politischen Auftragsmords wurde, daran bestand nie Zweifel. Ebenso wenig daran, dass die tschetschenische Führung um den kremltreuen Republikchef Ramzan Kadyrow in das Verbrechen verwickelt war. Staatsanwältin Maria Semenenko sorgte dafür, dass die Hintergründe und Motive dieses mörderischen Staatsaktes erst gar nicht zur Sprache kamen.

Verantworten mussten sich vor dem Militärgericht der russischen Hauptstadt der Todesschütze und vier Mordgehilfen. Am Donnerstag, knapp zweieinhalb Jahre nach den tödlichen Schüssen auf den Oppositionspolitiker und Kreml-Kritiker, sind die Urteile verkündet wurden. Alle fünf Angeklagten wurden schuldig gesprochen, das Strafmaß stand zu Redaktionsschluss noch aus. Die mutmaßlichen Auftraggeber blieben - wie schon bei früheren Politmorden - unbehelligt. Ein Umstand, den nicht nur die Anwälte der Familie Nemzows beklagten, die Einschätzung wird auch von unabhängigen russischen Medien und Politanalysten geteilt. "Niemand würde", schrieb kürzlich der 77-jährige Dissident Andrej Piontkowski, "in einem so prominenten Mordfall ohne den Befehl Kadyrows agieren. Und Kadyrow konnte einen solchen Befehl nur auf eine direkte Bitte Präsident Putins hin geben oder basierend auf der Information, der Führer wünsche so etwas." So offen wagen es aus Angst vor Repressionen nur die wenigsten Regimekritiker auszusprechen - es sei denn, sie flüchten wie Piontkowski ins Exil. Einer, der den Mut im Land selbst hatte, war Nemzow. Der Gründer der Parnass-Partei gehörte zu den bekanntesten Oppositionspolitikern des Landes und galt als einer der pointiertesten Kritiker des korrupt-autoritären Putin-Regimes. Vor den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi sorgte er mit einem Bericht für Aufsehen, wie sich einflussreiche Freunde des Präsidenten und ihm nahestehende Oligarchen bei dem Sportspektakel illegal bereichert haben; kurz vor seinem Tod recherchierte der damals 55-Jährige über den Einmarsch Russlands in der Ostukraine, den Moskau lange leugnete. Kadyrow beschimpfte den Liberalen offen als "Feind Russlands", der Kreml sah in ihm einen.

Am 27. Februar 2015, wenige Tage vor einer in Moskau geplanten Protestkundgebung, die Nemzow mitvorbereitet hatte, wurde der Ex-Vizepremier (1997/98) und spätere "Putin-Kritiker aus tiefster Überzeugung" kaum 300 Schritte vom Kreml entfernt um 23.30 Uhr von einem fünfköpfigen tschetschenischen Killerkommando auf offener Straße niedergestreckt. Nemzow starb noch am Tatort. Der Schütze hatte auf der Großen Moskwa-Brücke fünf Schüsse auf ihn abgefeuert. Trotz der zahlreichen Sicherheitskameras, die rund um den Kreml postiert sind, scheinen sich die Täter sehr sicher gefühlt zu haben - weder hatten sie ihre Gesichter verdeckt noch nach dem Mord versucht, ihre DNA-Spuren an dem Fluchtauto zu verwischen. Sie wähnten sich angesichts der mächtigen Hintermänner in Grosny und Moskau offenbar unantastbar.

220.000 Dollar sei ihnen für die erfolgreiche Ausführung der Operation versprochen worden, hatte der Todesschütze Saur Dadajew kurz nach seiner Verhaftung Anfang März gestanden. Dabei schilderte er bis ins Detail den Tathergang, die vorangegangenen Observierungen - und dass der Plan zur Ermordung Nemzows bereits im Herbst 2014 gefasst wurde, als auch die Morddrohungen deutlich zunahmen. Ein Geständnis legte auch ein zweiter Angeklagter, Anzor Gubaschew, ab, der ebenfalls kurz nach dem Mord verhaftet worden ist. Er soll das Fluchtauto gesteuert haben, in das Dadajew nach den tödlichen Schüssen gesprungen war. Offenbar seien sie so schockiert über ihre Festnahme gewesen, dass sie quasi sofort vor laufender Kamera zu plaudern begonnen hätten, schrieb die kremlkritische Zeitung "Nowaja Gaseta". Alle drei widerriefen später ihre Aussagen - diese seien durch Folter erzwungen worden, behaupteten sie. Doch auf den Videos, schreibt das Investigativblatt, sei "bei keinem von ihnen ein blaues Auge oder eine leere Sektflasche erkennbar, die (angeblich) im Hintern steckt".

Das große Schweigen

Bei all ihrem Redefluss hielten die Angeklagten ein eisernes Gesetz allerdings ein: Über ihren oder ihre wahren Auftraggeber schwiegen sie sich aus.

Doch das Ermittlungsteam recherchierte zunächst weiter. Ins Visier geriet dabei vor allem Ruslan Geremejew. Die Geremejews gehören, ebenso wie die Demilchanows, zum mächtigen Familienclan Kadyrows. Ruslan ist Vizekommandant des berüchtigten tschetschenischen Bataillons Nord, einer paramilitärischen Sonderpolizeieinheit, die zwar seit 2010 offiziell dem russischen Innenministerium untersteht, aber vom Kadyrow-Clan weiterhin zur physischen Beseitigung unliebsamer Personen eingesetzt wird. Er hatte die beiden Moskauer Wohnungen angemietet, in dem das Killerkommando bis zur Tat wohnte und in denen das Verbrechen in Moskau vorbereitet worden sein soll - und in dem Bankomatkarten von Ruslan Geremejew sichergestellt wurden. Vermutlich hatte er auch den Schützen Dadajew angeheuert, der bis kurz vor dem Mord ebenfalls als Vizekommandant im Bataillon Nord diente.

Befehligt wird die Sondereinheit von Alibek Demilchanow, dem Bruder von Adam Demilchanow - beide Cousins von Kadyrow. Adam Demilchanow, der als Abgeordneter im russischen Parlament sitzt und stets eine goldene Pistole mit sich führt, ist die Nummer zwei in der Grosnyschen Machthierarchie und wird als möglicher Nachfolger Kadyrows gehandelt. Er soll dutzende Morde angeordnet haben, darunter den an dem Warlord Sulim Jamadajew in Dubai 2009, weshalb er in den Vereinigten Arabischen Staaten per Haftbefehl gesucht wurde. Den Mord an seinem Bruder Ruslan Jamadajew in Moskau soll Suleiman Geremejew, ein weiteres mächtiges Familienmitglied des Republikchefs, organisiert haben: Er sitzt als Vertreter Tschetscheniens im Moskauer Föderationsrat, der zweiten Parlamentskammer. Von ihm sollen laut "Nowaja Gaseta" elektronische Karten in einer der Wohnungen gefunden worden sein, die für den Mord an Nemzow angemietet wurden. Der Jamadajew-Clan kämpfte im zweiten Tschetschenien-Krieg gemeinsam mit dem Kadyrow-Clan auf der Seite der Russen gegen den tschetschenischen Widerstand, wurde Kadyrow aber dann zu mächtig. Der Clan ist auch für hunderte Morde an Mitgliedern von Rebellenfamilien, Oppositionellen, Journalisten und Aktivisten in Russland und vor allem in der der Teilrepublik Tschetschenien verantwortlich. Putin lässt Kadyrow und die Seinen gewähren, solange sie ihm gegenüber loyal sind, Tschetscheniens Separatisten verfolgen und für den Kreml Aufgaben übernehmen, mit denen sich der Kreml nicht selbst die Hände schmutzig machen will. Im Gegenzug gibt es Straffreiheit.

Als dem Kreml die Ermittlungen im Mordfall Nemzow zu ehrgeizig wurden, erklärte Putin die Causa kurzerhand zur Chefsache. Sulim Geremejew entzog sich einer Befragung, indem er sich in Tschetschenien verschanzte. Gegen ihn wurde auch kein Haftbefehl erlassen, inzwischen lebt er unbehelligt in den Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Das Gericht lehnte auch eine Zeugeneinvernahme Kadyrows ab, die die Opferanwälte gefordert hatten.

Die Staatsanwältin präsentierte derweil ihre eigene Version über den Mord: Ruslan Muchutdinow, Geremejews Chauffeur, habe die Tat allein organisiert, die keineswegs mit Nemzows politischer Arbeit in Verbindung gestanden sei. Auch er soll inzwischen in Dubai Zuflucht gefunden haben.

Fragen nach dem Motiv Muchutdinows oder woher er das Geld hatte, um das Killerkommando zu bezahlen, wurden als "irrelevant" abgedreht. Auch die Frage, warum just in jener Mordnacht die rund um die Kremlmauer angebrachten Videokameras ausfielen, wurde brüsk abgewürgt.