)
Türkei-Experte Kristian Brakel befürchtet Eskalation, wenn sich die Parlamentarier der pro-kurdischen Partei nicht selbst ausliefern.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Die türkische Regierung machte unmittelbar nach dem Anschlag am Dienstag die kurdische PKK verantwortlich. Teilen Sie diesen Befund?
Kristian Brakel: Noch gibt es keine gesicherten Informationen, die Art des Anschlags spricht aber für die PKK oder mit ihr affiliierte Gruppen wie TAK als Täter. Diesmal war ein Fahrzeug mit Bereitschaftspolizisten das Ziel. Im Februar und März wurden in Ankara ein Polizeiposten und ein Armeebus angegriffen. Zwar richten sich auch linke Splittergruppierungen gegen Polizei und Armee - wie auch gegen ausländische, insbesondere US-Einrichtungen. Die Anschläge sind im Gegensatz zu jenen der PKK meist sehr unprofessionell ausgeführt. Die dritte Tätergruppe, der "Islamische Staat", hat bisher Touristen oder türkische Oppositionelle, insbesondere Kurden, ins Visier genommen.
Die türkische Regierung hatte erst am Montag vermeldet, 1000 PKK-Kämpfer "neutralisiert" zu haben. Sollte der Anschlag die Schlagfähigkeit der PKK untermauern?
Das kann sein, die Regierung veröffentlicht derartige Zahlen relativ häufig. Ich sehe den Anschlag eher als Fortführung der seit 2015 dauernden Eskalation.
Die Türkei ist laut "Reporter ohne Grenzen" auf Rang 151 von 180 in Sachen Pressefreiheit zurückgefallen, die Behörden zensieren das Internet. Das Meinungsklima ist also ganz klar gegen die PKK. Was ist deren Kalkül?
Die PKK will die öffentlichen Sympathien nicht mehr gewinnen. Diese Idee stammt aus der kurzen Zeit des Waffenstillstandes, als man dachte, man könnte die kurdische Frage mit demokratischen Mitteln lösen. Seit der militärischen Eskalation 2015 lautet das Motto an Regierung und Staat: Ihr mögt militärisch überlegen sein, aber denkt nicht, ihr seid vor dem Konflikt sicher. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen finden vor allem im Südosten des Landes statt. Daher trägt die PKK den Konflikt in die Großstädte, zeigt, dass sie zuschlagen kann, wo immer sie will.
Wie ist die Stimmung gegenüber Kurden in der Bevölkerung?
Anders als noch in den 1990ern sagen viele Bürger, sie hätten kein Problem mit Kurden. Andererseits heizen Boulevardmedien die Stimmung auf, sehen Kurden pauschal als Verräter.
Diese Zweigesichtigkeit sieht man auch bei Erdogans AKP. Die Partei betont, man habe Kurden unter den Abgeordneten, sei nur gegen die "Terroristen". Der pro-kurdischen Partei HDP wirft sie aber en gros Terrorunterstützung vor und dass sie eine PKK-Vorfeldorganisation sei. Natürlich hat die HDP Kontakte zur PKK. Diese Kontakte hat sich der Staat bei den Friedensgesprächen ja zunutze gemacht. All das bedeutet nicht, dass die PKK die HDP steuert.
50 von 59 HDP-Abgeordneten verloren im Mai ihre parlamentarische Immunität . . .
Die Anklageschriften sind zum Teil lächerlich, dennoch wird die Staatsanwaltschaft Anklage erheben. Die HDP-Abgeordneten haben bereits gesagt, sie werden sich nicht selbst ausliefern, sondern die Polizei muss die Politiker aus dem Parlament tragen. Das wird wahrscheinlich auch passieren. Dann ist mit einer Eskalation des bewaffneten Konflikts zu rechnen. Viele, insbesondere jüngere Kurden denken, dass die Regierung keine politische Lösung will. Wichtig sind auch die Urteile: Wird eine Gefängnisstrafe von über einem Jahr verhängt, verliert ein Abgeordneter sein Mandat und darf auch nicht wieder zu einer Wahl antreten. Das würde Neuwahlen notwendig machen - und die AKP hätte Chancen auf die Zwei-Drittel-Mehrheit.
Erreicht sie diese, stünde der Präsidialverfassung im Sinne Erdogans nichts mehr im Wege.
Paradoxerweise könnte es dadurch zu einer Beruhigung der Lage kommen. Erdogan hatte kurdische Wählerstimmen an die HDP verloren, also musste er mit den Nationalisten paktieren, etwa bei der Aufhebung der Immunität. Das wäre dann nicht mehr notwendig. Andererseits könnten Erdogan-Gegner, die nicht in den Kurdenkonflikt involviert sind, ob der Verfassungsänderung auf die Barrikaden steigen.