Autor David Goodhart über den Graben zwischen urbanen Eliten und "Normalbürgern".
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Es ist bereits der zweite Besuch von David Goodhart im Tiroler Bergdorf Alpbach. Zuletzt war er zum Skifahren hier, diesmal ist er beim Europäischen Forum Alpbach, um die Erkenntnisse aus seinen zwei aktuellsten Büchern unter die wissensdurstigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Forums zu bringen.
"Wiener Zeitung": Sie schreiben in Ihrem Buch "The Road to Somewhere" - auch in der deutschen Übersetzung blieb man beim englischen Buchtitel - über den Gegensatz zwischen den globalisierten urbanen Eliten, den "Anywheres", und den eher lokal verankerten Schichten, den "Somewheres". Was meinen Sie mit diesen Begriffen?David Goodhart: Die beiden Begriffe klingen zuerst vielleicht ein wenig krude und binär. Aber lassen Sie mich erklären, was damit genau gemeint ist. Ich habe zwar diese Labels ersonnen, aber nicht das Weltbild dieser Gruppen. In Großbritannien sind rund 25 bis 30 Prozent den Anywheres zuzurechnen. Das sind Leute, die auf Universitäten studiert haben, sie sind also gut ausgebildet und mobil. Mobilität ist ein Kennzeichen der "Anywheres". Nachdem Universitäten meist liberale Institutionen sind, begegnen die Menschen dort einander mit Offenheit, man pocht auf Selbstbestimmung. An den Unis lernen die Studentinnen und Studenten ein progressiv-individualistisches Weltbild kennen. Die "Somewheres" sind mehr an einem bestimmten Ort verwurzelt, sie waren meist nicht auf der Universität, für diese Gruppe ist Vertrautheit und Stabilität wichtig. Dazu gibt es die "In-betweeners", das ist eine Gruppe von Bürgern, die zwischen diesen beiden Welten stehen. Sie sind eine Mischung, in Wien würde man vielleicht "Melange" sagen.
Wie würden Sie das Selbstverständnis der "Anywheres" beschreiben?
Die "Anywheres" haben eine "erlangte Identität", wie das der amerikanische Soziologe Talcott Parsons nennt. Ihr Selbstwertgefühl und ihre Identität speist sich aus ihren Karriereerfolgen und den akademischen Leistungen. Sie können ihr Universitätsdiplom überall hin mitnehmen, dieses Dokument ist vielfach die Eintrittskarte zu einem guten Job, zu einer tollen Karriere, zu einem interessanten Leben. "Somewheres" wiederum haben "zugeschriebene" Identitäten. Ihre Identität speist sich aus den Bindungen an einen bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Gruppe. Die meisten haben eine Mischung aus zugeschriebenen und erlangten Identitäten.
Wie würden Sie die Konflikte zwischen "Anywheres" und "Somewheres" beschreiben?
In den vergangenen Jahrzehnten dominierte in unseren Gesellschaften die Weltanschauung der "Anywheres". Und das hat zu einer Gegenreaktion geführt, die als Populismus beschrieben wurde. Ich möchte klarstellen: Nicht alle "Somewheres" votieren für populistische Parteien, aber alle, die populistische Parteien wählen, sind den "Somewheres" zuzurechnen. Insofern sehe ich Populismus als etwas, das durchaus dazu beigetragen haben mag, die politische Balance wieder ein wenig herzustellen. Denn der Liberalismus der "Anywheres" hat es in einigen Punkten übertrieben: Wandlungsprozesse waren zu schnell, zu rapide, zu radikal. Während die "Anywheres" damit weniger Probleme haben, da sie einfach die Welle des Wandels reiten können, fühlen sich die "Somewheres" von rapiden Wandlungsprozessen bedroht. Wenn sich die Nachbarschaft durch Zuwanderung oder auch Gentrifizierung rapide wandelt, dann ist das für die "Somewheres" beunruhigender als für die "Anywheres".
Waren die urbanen Eliten, die "Anywheres", wie Sie sie nennen, taub für die Sorgen und Nöte der Normalbevölkerung, der "Somewheres"?
Die "Anywhere"-Weltsicht war recht narzisstisch und egozentriert. Das Diktum dieser Leute lautet: "Jeder kann etwas erreichen, man muss sich nur anstrengen, man muss nur lernen und auf die Universität gehen." Wir brauchen viele clevere Leute mit tollen Universitätsabschlüssen, um die Probleme der Zukunft zu lösen. Aber kognitive Intelligenz ist nicht die einzige Form von Klugheit. In meinem Buch "Kopf, Hand, Herz - Das neue Ringen um Status: Warum Handwerks- und Pflegeberufe mehr Gewicht brauchen" geht es genau darum, dass es auch so etwas wie emotionale Intelligenz gibt oder handwerkliches Können. Der Mangel an Respekt von Universitätsabsolventen und der Intelligenzija gegenüber manuellen Berufen hat wohl auch dazu geführt, dass Arbeiterinnen, Handwerker oder Mitarbeiterinnen in Erziehungs- und Pflegeberufen den Eindruck gewonnen haben, dass ihr Beitrag zur Gesellschaft nicht ausreichende Wertschätzung erfährt. Das hat den Populismus befeuert.
Hat der Populismus seinen Höhepunkt überschritten?
Vielleicht. 2016 könnte die Hochwassermarke für den Populismus gewesen sein: Die Wahl von Donald Trump, Brexit, Erfolge von AfD oder Marine Le Pen. Ich würde sagen, dass Kontinentaleuropa den populistischen Impuls ganz gut verarbeitet hat. Populistische Parteien zogen in die Parlamente ein oder konnten die Zahl ihrer Parlamentssitze ausweiten - in manchen Ländern kamen Populisten in Regierungsämter. In den USA oder Großbritannien war es anders: Es gab eine populistische Unterströmung, die sich mit der Wahl von Donald Trump oder dem Brexit plötzlich eine Bahn brach. Ich glaube, die Corona-Pandemie hat ein Umdenken gebracht. Plötzlich wurde über systemrelevante Arbeit gesprochen: U-Bahn-Fahrer, Supermarktmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Pflegerinnen und Pfleger. Hart arbeitende Menschen bekamen endlich den Respekt, den sie verdienen.
Welche Unterschiede sehen Sie in den Lebensstilen zwischen den "Anywheres" - den urbanen Eliten - und den "Somewheres"?
Für die "Anywheres" zählt der öffentliche Raum, der Job, öffentliche Ämter, Engagement in Vereinen, in der Politik. Familie ist wichtig, aber nicht ganz so zentral wie bei den "Somewheres". Viele "Somewheres" finden ihre Befriedigung im privaten Rahmen, in der Familie. Familienpolitik ist aber in vielen Ländern Arbeitsmarktpolitik: Da geht es darum, dass möglichst beide Elternteile möglichst schnell wieder am Arbeitsprozess teilnehmen können. Nachdem wir aber in unseren Gesellschaften immer mehr pflegebedürftige Menschen haben werden, droht eine Krise in den Pflegeberufen. Diese Berufe verdienen mehr Respekt und mehr Geld. Ein wichtiger Ansatz dabei ist auch, eine größere Anzahl von Männern für den Bildungssektor und für Pflegeberufe zu gewinnen.
Und was die höheren Einkommen betrifft?
Ein hoher Grad an Pflegearbeit passiert in privatem Rahmen, also zu Hause. Pflegerinnen und Pfleger in einem Krankenhaus haben zumindest eine gewerkschaftliche Vertretung, bei häuslicher Pflege ist das etwas anderes. Zudem: Die Qualität von Pflege ist schwer quantifizierbar.
Sehen Sie eine Chance, "Anywheres" und "Somewheres" zu versöhnen?
Lassen Sie mich zuerst über den Zankapfel Brexit sprechen: Die meisten, die dafür gestimmt haben, waren keine extremistischen Brexit-Fanatiker. Und die meisten "Remainers" gehören ins Lager der Moderaten. Die Gräben sind also nicht so weit und so tief, wie es manchmal den Anschein hat. Das Paradoxe ist, dass es als eine Folge des Brexit ein völliges Umdenken der öffentlichen Meinung zur Migration gegeben hat. Die war ja ein zentrales Motiv der Brexit-Befürworter. Vor dem Brexit lieferten die Umfragen regelmäßig Ergebnisse, dass für 65 bis 70 Prozent der Briten die Zuwanderung zu viel ist. Diese Zahl ist nun auf 45 bis 50 Prozent zurückgegangen, weil plötzlich an allen Ecken und Enden Arbeitskräfte fehlen. Um die Brexit-Folgen insgesamt beurteilen zu können, ist es vielleicht noch zu früh, man kann aber durchaus sagen, dass sich die "Brexiteers" nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Somit könnte ich mir schon vorstellen, dass durchsickert, dass Entscheidungen die im Affekt, aus Wut oder Unzufriedenheit heraus getroffen werden, nicht immer die Besten sind. Und die "Anywheres" haben nun mehr Verständnis dafür, dass manche Menschen Wandlungsprozesse als Quellen des Verlusts begreifen, dass manche Menschen sich eben in einem Ort - den sie vielleicht Heimat nennen - verwurzelt fühlen. Sie haben verstanden, dass das nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun haben muss.