Die Politologin und linke Vordenkerin Chantal Mouffe sagt, das Volk müsse politisch erst konstruiert werden - und zwar auf der Basis einer "Wir-gegen-sie"-Logik.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": In einem früheren Interview mit der "Wiener Zeitung" sagten Sie, der Konsens der beiden großen Parteien der Mitte sei überall in Europa eine Gefahr für die Demokratie, weil er bedeutet, dass die Bürger keine Wahlmöglichkeiten mehr haben und sich frustriert an die Randparteien wenden. Haben Ihnen Brexit und die österreichische Präsidentschaftswahl recht gegeben?
Chantal Mouffe: Ja! Ich war schockiert über diese Wahl. Einen Präsidenten Hofer würde ich schrecklich finden und ich habe gehofft, dass Alexander Van der Bellen gewinnt. Aber die Reaktionen in ganz Europa und auch im Rest der Welt waren wieder einmal völlig übertrieben. Diese Angst, bald kämen wieder die Nazis an die Macht! Schon bei Jörg Haiders Erfolg hieß es, in Österreich habe eine Neonazi-Partei das Ruder übernommen. Das war absolut lächerlich, die FPÖ ist doch keine Neonazi-Partei! Rechts ja, populistisch ja, aber nicht nationalsozialistisch. Begriffe sind wichtig. Für mich ist diese Art von Rechtspopulismus, die wir gerade in Europa erleben, ein komplett neues Phänomen. Ihn als rechtsextrem einzuordnen, ist falsch, weil das die Besonderheiten dieser Parteien verkennt. Natürlich ist es immer einfach, ein altes, verbrauchtes Etikett zu verwenden, denn dann muss man sich nicht bemühen, zu verstehen, was gerade passiert und was auf dem Spiel steht. Seit 15 Jahren sage ich, dass Konsensdemokratie nicht etwa eine Errungenschaft ist, sondern ein großes Problem. Dass es zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts keinen Unterschied mehr gibt, bezeichne ich als postpolitisch. Wir erleben in Österreich deshalb genau die gleiche Situation wie damals mit Haider. Mich überrascht das nicht. Neu ist allerdings, dass nun in fast ganz Europa rechtspopulistische Parteien rasant zulegen.
Warum ist das so?
Ein extremes Beispiel ist Frankreich. Dort unterscheidet sich die Politik des Sozialisten François Hollande in keiner Weise von jener seines konservativen Vorgängers Nicolas Sarkozys. In gewissem Sinne ist sie sogar rechter. Man kann diese Parteien nicht mehr als sozialdemokratisch bezeichnen. Sie sind sozialliberal. Das ergibt ein sehr einfaches Terrain für die Rechtspopulisten, die nun fast überall in Europa deutlich dazugewinnen, mit der Ausnahme von Spanien mit Podemos und Griechenland mit Syriza. Es gibt viele Forderungen an den öffentlichen Sektor, die von den Parteien der Mitte nicht mehr erfüllt werden. Die neoliberale Globalisierung hat in der
Gesellschaft einen Spalt geschaffen - zwischen denen, die noch profitieren, und dem Rest, der arbeitslos ist oder Angst hat, seinen Job zu verlieren. Dazu kommen die steigende Ungleichheit und die Oligarchisierung der Gesellschaft. Ich war früher der Meinung, dass wir die Grenze zwischen Rechts und Links wieder definieren müssen, und ich habe geglaubt, dass die Sozialdemokratie sich wieder zu ihren Wurzeln bekennen könnte. Das sehe ich heute anders. Die Bankenkrise und die Reaktion der sozialdemokratischen Parteien und Regierungen haben gezeigt, dass sie nicht einmal so eine Gelegenheit nutzen, um eine Politik der Umverteilung zu beginnen. Es wäre doch etwas möglich gewesen, wie Franklin D. Roosevelts "New Deal". Aber alle entschieden sich, lieber die Banken zu retten. Deshalb brauchen wir Linkspopulismus.
Halten Sie die Mitte wirklich für verloren oder können sich die großen, alten Parteien doch noch transformieren?
Ja, diese Möglichkeit gibt es schon. Ich habe immer noch große Hoffnungen für meine Wahlheimat Großbritannien. Jeremy Corbyn möchte etwas etablieren, was ich als linken Populismus bezeichne. Für mich bedeutet das, den Dialog zwischen der Partei und den sozialen Bewegungen aufrechtzuerhalten. Darin ist Corbyn sehr gut, weil er aus diesen "Graswurzelbewegungen" stammt. Corbyn konnte nur gewählt werden, weil die Wahlregeln geändert wurden: Zum ersten Mal durften nicht nur Parteimitglieder abstimmen, sondern auch Sympathisanten von Labour. Das hat viele junge Leute mobilisiert. Außerdem hat er auch die Unterstützung der Gewerkschaften und vieler radikaler Linker. Was nicht heißt, dass er die nächste Wahl gewinnen wird.
Aus der Linken hört man oft, sie müsse linkspopulistischer werden. Die Rechtspopulisten lehnen den Populismus-Vorwurf entschieden ab. Woran liegt dieser Gegensatz?
Die Bezeichnung Populismus wird viel zu oft missbräuchlich verwendet und wird ja meistens abwertend gemeint. Ich hatte die Diskussion auch mit den Politikern von Podemos und sie lehnen dieses Label genau aus diesem Grund ab. Ich halte dagegen, dass wir uns das Wort zurückerobern müssen und mit einer anderen, positiveren Bedeutung versehen. Es heißt oft, Populismus sei anti-demokratisch oder sogar eine Perversion der Demokratie. Das ist absolut falsch! Populismus ist ein lebensnotwendiger Bestandteil der Demokratie. Das Volk muss politisch erst konstruiert werden, und zwar auf der Basis einer "Wir-gegen-sie"-Logik. Politik bedeutet immer, einen Gegner zu definieren. Für die Rechten sind es die Einwanderer. Für die Linken ist es die Macht der großen Konzerne und der Superreichen.
"Österreich ist gespalten" hieß es während und nach der Präsidentschaftswahl.
Das Volk wird immer gespalten sein. "Wir sind das Volk" ist eine Illusion. Gegensätze wird es immer geben. Deswegen brauchen wir Parteien! Demokratie heißt niemals Herrschaft des Volkes, sondern immer Herrschaft eines Teils davon. Die Frage ist also: Wie sieht dieses Volk aus? Und da unterscheiden sich sie Links- und Rechtspopulisten sehr. Für die Rechten geht es dabei immer um den Ausschluss von "Fremden", für die Linken um mehr Gerechtigkeit. Die Frage ist: Wem gelingt es, das Bild einer Gesellschaft zu konzipieren, das der Mehrheit gefällt?
In Frankreich revoltieren die Aktivisten von "Nuit débout" ("Die Aufrechten der Nacht") seit März gegen die Spar-Politik von François Hollande. Wird das Folgen in Form einer neuen Bewegung haben?
Sie wenden sich gegen das System und es ist gut, dass sich die Jungen so laut gegen Hollandes Kürzungen gewehrt haben und sich nicht nur vor dem Terrorismus fürchten. Aber was die Regierung wirklich unter Druck setzte, waren die Streiks, nicht die Demonstrationen. Was ich an Nuit débout problematisch finde, habe ich auch schon an der US-Bewegung Occupy Wall Street kritisiert: Sie weigern sich, mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten. In Spanien ist es besser gelaufen. Wenn es nach vielen Protestierenden der Indignados (Empörte, unabhängige Protestierende ab 2011, Anm.) gegangen wäre, gäbe es dort keine neue linke Partei. Aber es gab eine Gruppe von Leuten, die verstanden haben, dass es nur so funktioniert und deshalb Podemos gegründet haben. Natürlich muss es nicht über Nacht geschehen, aber irgendwann müssen sich Aktivisten entscheiden, eine politische Bewegung zu formen.
Könnte das auch auf europäischer Ebene passieren?
Bei der Kritik an der EU darf es meiner Meinung nach nicht nur um das Demokratie-Defizit gehen. Das greift einfach zu kurz. Für mich ist zentral, was mit Griechenland passiert ist. Erinnern wir uns, dass Jean-Claude Juncker und Wolfgang Schäuble damals quasi gesagt haben, nationale Wählen dürften sich nicht auf EU-Ebene auswirken. Das ist eine Absage an die Demokratie. Die Konsequenz ist, dass immer mehr Linke die EU ablehnen. Ich habe neulich den ehemaligen Syriza-Politiker Costas Lapavitsas gesprochen. Er hält es für einen Fehler, nicht mit der EU gebrochen zu haben, weil das für ihn den einzigen Ausweg bedeutet hätte.
Der Fall Griechenland hat die Anti-EU-Stimmung bei den Linken enorm geschürt. Ich dagegen glaube immer noch an einen europäischen linken Populismus. Wenn die Griechen die EU verlassen hätten, wäre es nur noch schlimmer geworden, die Wirtschaft wäre kollabiert. Wer Alexis Tsipras als Verräter beschimpft, wie das viele Linke tun, liegt absolut daneben. Er hatte keine Wahl. Aber käme Podemos an die Macht, sähe es vielleicht anders aus, da Spanien wirtschaftlich viel bedeutender ist als Griechenland und mehr Druckmittel hat. Wenn wir noch in weiteren Ländern linke Regierungen hätten, könnten die die EU von innen heraus verändern. Warten wir ab, was in Spanien passiert, in Frankreich und in Großbritannien - sollte es dann noch in der EU sein.
Chantal Mouffe stammt aus Belgien und ist Politologin an der Londoner University of Westminster. Sie gilt als eine der wichtigsten Theoretikerinnen der europäischen Linken. In Wien sprach sie zuletzt im Rahmen der Wiener Festwochen.