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Populistischer Neonationalismus

Von Rainer Stepan

Gastkommentare

Definieren wir das "Österreichische" neu und legen wir die Basis für ein "gelerntes Europäertum".


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Die allerfassende Covid-Debatte tritt langsam trotz neuer Mutationen in die zweite Reihe - so kommt das Thema Migration wieder in den Vordergrund; die Forderung der Grünen, die Abschiebungen nach Afghanistan einzustellen, und die Staatsbürgerschaftsdebatte, initiiert von der SPÖ, sind von Türkis mit Handkuss aufgenommen worden, um in beiden Fällen ein apodiktisches Nein in die Öffentlichkeit zu posaunen - schließlich gibt es jetzt verstärkt die Gefahr von Stimmenverlusten an Herbert Kickls FPÖ.

Hinzu kommt ein abscheuliches Verbrechen, wahrscheinlich von zwei oder drei afghanischen Asylwerbern begangen, das politisch höchst willkommen das strikte Nein emotional immens verstärkt. Die nüchterne Frage, ob effektive Asyl- und Integrationspolitik populistischer Agitation geopfert wird, ob dem Wähler erfolgreiche Integrationsbeispiele, die es im Zivilleben Gott sei Dank zu Tausenden gibt, die aber oft von staatlichen Stellen aus populistischen Gründen zunichtegemacht werden, positiv zu vermitteln sind, stellt sich nicht.

In nahezu ganz Europa gibt es starke politische Kräfte, die auf Erfüllung der "bluthaften Instinkte" der Wähler - wie Franz Werfel es formuliert hätte - ausgerichtet sind; eine demokratiepolitisch extrem gefährliche Entwicklung, die, aus welchen Gründen auch immer, einmal wieder unumkehrbar und unkontrollierbar seitens demokratischer Institutionen werden könnte.

Ungarn hat gerade ein perfides Anti-Pädophilen-Gesetz beschlossen, das sich primär gegen Homosexuelle richtet, denen damit "zum Schutz von Kindern" jede Öffentlichkeit verboten wird. Die Europaminister der anderen EU-Staaten haben einen eindeutigen offiziellen Protest dagegen unterschrieben - die österreichische allerdings erst nach einer gewissen Bedenkzeit.

Ein Rückschrittins 19. Jahrhundert

Das Gesetz ist ein Rückschritt ins 19. Jahrhundert. Aber damals gab es zumindest ein "Wien um 1900" mit allen seinen wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen, humanen Ansprüchen an die Zeit, eine Aufbruchsstimmung mit einer Fülle von genialen Ideen und Visionen auf Grundlage des Miteinanders, des gegenseitigen Befruchtens; aber gleichzeitig auch einen immer extremer werdenden Nationalismus, an dem schließlich die "kleine Welt Österreich-Ungarn" zerbrochen ist. Waren die Ereignisse von 1918 und 1919 in Mittelost- und Südosteuropa mit Ausnahme des Endes des Ersten Weltkriegs positive Daten, wie landläufig behauptet?

In den Nachfolgestaaten hatte die Fantasie vom Nationalstaat politisch Priorität, obwohl das Gegenteil Realität war. In Restösterreich, das nicht wusste, was es jetzt war und wohin es gehörte, sagte der Führer der Sozialdemokratie, Otto Bauer, nach dem Diktat von St. Germain 1919: "Wir müssen den verhassten Namen ‚Österreich‘ wieder übernehmen!" Dieser Name war bei den deutschnationalen Sozialdemokraten deswegen verpönt, weil er für die Habsburger-Dynastie stand und inhaltlich Multinationalität, Diversität und Vielfalt bedeutete. In den Protokollen der Regierung unter Karl Renner wurde ab November 1918 bereits von "Fremdnationalen" gesprochen, von Menschen, die als Angehörige der k.u.k. Armee noch einige Tage oder Wochen zuvor als Österreicher gemeinsam in den Schützengräben gelegen waren und gekämpft hatten.

Die Staatsbürgerschaftund das "ius sanguinis"

Wenn jetzt von Europaministerin Karoline Edtstadler bei der österreichischen Staatsbürgerschaft vom "ius sanguinis" gesprochen wird, dann hat sie keine Ahnung, was sich mit diesem Argument im 20. Jahrhundert in Europa Grauenhaftes abgespielt hat. Der aktuelle populistische Neonationalismus, stark auch im Gemeinsamen Europäischen Rat, ist getragen von zeitgeschichtlichem Unwissen und präpotenter, zerstörerischer Ignoranz.

Hingegen forderte Mitte der 1980er Jahre der tschechische Historiker Jiri Koralka von der Karlsuniversität Prag bei einer Mitteleuropa-Veranstaltung am Semmering: "Wir sollten das ‚Österreichische‘ neu definieren" - eine Forderung, die bis heute nicht ansatzweise versucht wurde. Wer sind die echten "Österreicher"? Nicht unbedingt jene durch Geburt. Es sind die "gelernten Österreicher", jene, die nach Franz Werfel das "Bluthafte", das Angestammte durch ein mitteleuropäisches Kulturbewusstsein überwunden haben; das gemeinsame Kulturerbe als Initialkraft neuen Schaffens, als Ideenquelle völlig selbstverständlich internalisiert haben, in dem das "ius sanguinis" keine Rolle mehr spielt.

Dem Mehrheitsvolk nach dem Mund reden

Aber von all dem haben die Europaministerin und ihre türkise Kollegenschaft - wahrscheinlich mit Ausnahme des Arbeitsministers - offenbar keine Ahnung, es scheint sie auch nicht zu interessieren. Politik heißt daher, dem Mehrheitsvolk nach dem Mund zu reden - somit primitiver Populismus auf der Grundlage des "ius sanguinis". Ein Problem in ganz Europa, besonders aber ausgeprägt in Mitteleuropa - siehe Ungarn, Polen, Slowenien -, weil hier die kulturellen Wurzeln des Gemeinsamen ganz bewusst ignoriert werden; dazu bräuchte es kritisches, umfassendes Geschichtsbewusstsein und eine breite Allgemeinbildung.

Bei der oben zitierten Veranstaltung am Semmering hat der berühmte ungarische Schriftsteller und Intellektuelle György Konrad gemeint, dass "die Europäisierung Europas nur über die Mitteleuropäisierung Mitteleuropas wird stattfinden können". Voilà, das ist doch das Hauptproblem EU-Europas: erstens die Entmitteleuropäisierung durch den absurden illiberalen Neonationalismus autoritären Zuschnitts in Mitteleuropa und zweitens das Unverständnis Westeuropas für mittelost- und südosteuropäische Gegebenheiten und deren Ursachen.

Bei einer vom Autor dieser Zeilen 1990 organisierten "Factfinding-Mission" nach Polen unter Leitung des CDU-Politikers Bernhard Vogel (er Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und Thüringen) sowie einigen westeuropäischen Parlamentariern wurde nach Warschau und Danzig (wo Lech Walesas die Solidarnosc gegründet hat) auch Krakau besucht. Die Delegation wurde von Prälat Joszef Tischner (dem Nachfolger von Papst Johannes-Paul II. an der Jagiellonen-Universität und späteren langjährigen Präsidenten des Instituts von den Wissenschaften vom Menschen in Wien) mit den Worten begrüßt: "Herzlich willkommen in Krakau. Sie waren in Warschau, dann in Danzig; bitte vergessen Sie das, denn hier wird ‚österreichisch‘ gedacht!"

Eine Renaissance von "Habsburgs Geist"

Und das traf zu. Tatsache ist, dass bei den ersten Wahlen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und des Zerfalls der Sowjetunion allein an den Wahlergebnissen die Grenzen Österreich-Ungarns ablesbar waren: in der ehemaligen österreichischen Reichshälfte, von der Bukowina bis Dalmatien in signifikant demokratischeren Wahlergebnissen als in den übrigen Teilen der jeweiligen aktuellen Nationalstaaten, und das von Beginn an mit dominierend ideologisch motivierten Parteien; in den Nachfolgestaaten des ab 1867 extrem nationalistischen Königreichs Ungarn, mit Ausnahme des heutigen Trianon-Ungarn mit dominant anti-ungarischen, nationalistisch motivierten Parteien.

Viktor Orbans Ungarn holt dies heute konsequent-aggressiv nach. Somit kam es nach den kommunistischen Verbrechensregimen zu einer Renaissance von "Habsburgs Geist", der aktuell mit "monarchistisch" nichts zu tun hat, sondern mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe, dem "Österreichischen", das tief verwurzelt in der kulturellen Atmosphäre dieser verschiedensten Regionen des ehemaligen Österreichs da ist, oft trotz mehrmaligem Bevölkerungsaustausch im 20. Jahrhundert.

Lasst uns also ohne imperialistische Paranoia und Hegemoniefurcht gemeinsam das "Österreichische" neu definieren und peu à peu in Gehirne von offenen Meinungsbildnern und langsam in die Bildungssysteme der mitteleuropäischen Staaten einfließen. Schaffen wir dadurch aus einer kritischen Renaissance gemeinsamer Erfahrungen und Erkenntnisse neue Impulse für ein substanzielles europäisches Bewusstsein, das Ausgangspunkt übernationalen Denkens und Handelns zugunsten einer "Europäischen Identität" und damit geistig-kulturelles Fundament eines erneuerten, "gelernten Europäertums" wird. Ohne dieses Fundament wird das aktuelle, bürokratische "Europäische Experiment" à la longue scheitern.