Halina war aufgeregt. Sie war acht Jahre alt, die Ferien hatten gerade begonnen, und sie sollte erstmals auf die Internationale Messe in Posen gehen. In aller Früh ist sie mit ihrer Mutter und der zehnjährigen Schwester aufgebrochen, um mit dem Zug in die nahe gelegene Stadt im Nordwesten Polens zu fahren. Es war ein warmer Donnerstag, der 28. Juni 1956.
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In dem Eisenbahn-Verwaltungsgebäude im Stadtzentrum wollte Halina ihren Vater abholen, der dort arbeitete, um gemeinsam auf die Messe zu gehen. Was hätte es dort alles zu sehen gegeben! Bunte Stände mit Luxuswaren, Delikatessen, Orangen und Schokolade, die in den Geschäften nicht zu bekommen waren. Sachen, die vielleicht die ausländischen Gäste gut kannten, an die sich die Posener aber höchstens nur erinnern konnten. Seit Tagen schwebte über dem Messegelände ein grauer Zeppelin, der von weitem lockte.
Doch all die Kostbarkeiten sah Halina nicht. Die nächsten Stunden verbrachte sie mit ihrer Familie in einem Zimmer des Verwaltungsgebäudes und schaute auf eine Hausfassade gegenüber. Immer wieder hörte sie ein Zischen und sah, dass ein Stück Putz herunterbröckelte. Erst nach Jahren begriff sie vollständig: Es waren Gewehrschüsse.
In den Straßen der Stadt wurde geschossen. Die Bevölkerung Posens hatte sich gegen das kommunistische Regime erhoben. Denn was hatte die Arbeiterklasse davon, dass alle Macht von ihr ausging, wenn sie ihre Kinder nicht ausreichend ernähren konnte? Mit der Forderung "Wir wollen Brot und Freiheit" zog die Menge durch die Straßen.
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Seit Monaten war die Unzufriedenheit der Menschen gewachsen. Der Fünf-Jahres-Plan hatte den Lebensstandard nicht wie angekündigt wachsen lassen. Das zentral fixierte Produktionssoll der Arbeiter stieg, die Löhne aber blieben gleich. Prämien wurden gestrichen. In den riesigen Hipolit-Cegielski-Stahlwerken - die damals Josef Stalins Namen trugen - hatte es Protestpausen und Massenversammlungen gegeben. Die Belegschaft formulierte tausende Anträge zur Verbesserung der Arbeitssituation. Eine Delegation fuhr nach Warschau, zum Industrieministerium. Doch bald war klar, dass die Wünsche der Arbeiter nicht erfüllt werden sollten.
Am Abend des 27. Juni beginnt der Streik im Zugreparaturwerk der Eisenbahn. Am 28. Juni, um halb sieben Uhr früh, verlassen die Arbeiter der Cegielski-Werke die Fabrik und marschieren Richtung Stadtzentrum. Andere Fabriken leeren sich, Studenten, Büroangestellte, Ärzte, Verkäufer schließen sich dem Zug an. Auf dem Schlossplatz - damals Stalin-Platz - kommen an die 100.000 Menschen zusammen. Sie fordern Gespräche mit dem Premier oder dem ersten Parteisekretär. Sie fordern Brot für ihre Kinder.
Das Gerücht macht die Runde, dass die Arbeiterdelegation verhaftet wurde. Die Menschen machen sich auf den Weg zum Gefängnis, stürmen es, befreien 252 Gefangene. Aus den Fenstern des Gerichtsgebäudes werfen sie Akten. Aus der Zentrale des ebenfalls belagerten verhassten Geheimdienstes UB fallen erste Schüsse. Die Protestanten sind unbewaffnet. Erst später haben auch sie Waffen: Gewehre von entwaffneten Soldaten, Pistolen von Polizisten, Molotowcocktails. Der Minister für Nationale Verteidigung stellt dem zwei Panzerdivisionen und zwei Infanteriedivisionen entgegen, 10.000 Mann. Panzer rollen gegen Posen. Die Kämpfe dauern bis in die Nacht, bis die Stadt "pazifiziert" wird.
Als Halina mit ihrer Familie zu Fuß 15 Kilometer nach Hause geht, ist der Zeppelin über dem Messegelände weg.
746 Menschen wurden verhaftet, 73 getötet - laut Angaben aus den 80er-Jahren. Die Nachricht über den Posener Aufstand, dem in den folgenden Jahrzehnten weitere folgten, drang über die Landesgrenzen hinaus. Im Oktober 1956 erklärten Studenten, die auf die Straßen Budapests gingen, ihre Solidarität mit Polen. Der Ungarn-Aufstand begann.
Jahrelang durfte in Polen kaum offiziell über den Posener Juni gesprochen werden. Eine Ausstellung vor der Universitätbibliothek der Uni Wien erinnert noch bis 13. Dezember daran.