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Prag: 3.096 Menschen leben auf der Straße

Von Michael Schmölzer

Politik

Wie viele Obdachlose genau es in Prag gibt, war bisher äußerst vagen Schätzungen unterworfen. Eine Zählung hat jetzt Licht ins Dunkel gebracht: Demnach sind exakt 3.096 Personen, davon 434 Frauen, in der Moldau-Metropole ohne Dach über dem Kopf. Das sind zwar bedeutend weniger wie etwa in Budapest, wo es an die 15.000 Gestrandete gibt (Stand: 1999). Dennoch sind Stadtväter und kirchliche Institutionen alarmiert.


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Zwei Monate lang haben Mitarbeiter sozialer Einrichtungen in Bettenhäusern wie im öffentlichen Nahverkehr abends Obdachlose gezählt, um deren genaue Zahl zu ermitteln.

Bedenklich für die Sozialarbeiter ist jetzt vor allem, dass nur für ein Viertel der Obdachlosen freie Plätze in den Asyleinrichtungen der Stadt vorhanden sind - insgesamt 700. Dabei bemühen sich viele Sozialfälle gar nicht mehr um einen Platz in den überfüllten Notschlafstellen. Mayor Neil Davis, Leiter einer Notschlafstelle in der Tusarova 60 berichtet, dass viele Angst vor den Heimen haben. Diese erinnerten sie oftmals zu sehr an geschlossene Heilanstalten. Auch zahlreiche ältere Obdachlose meiden die Schlafsäle. Sie ziehen die Anonymität unter der Brücke oder am Hauptbahnhof vor.

Bei vielen Obdachlosen handelt es sich um Teenager, die sich ihr Geld über Prostitution beschaffen. Viele von ihnen hängen an der Nadel. Die Resozialisierung, die meist von privaten Organisationen übernommen wird, läuft schleppend.

Im Unterschied zum Landesdurchschnitt von zehn Prozent beträgt in Prag die Arbeitslosenquote bloß zwei Prozent. Als Wirtschaftsmetropole zieht Prag deshalb Arbeits- und Wohnungssuchende aus dem ganzen Land an. Wer aber nicht über Beziehungen verfügt oder sich in der Großstadt nicht auskennt, findet sich kaum zurecht. Dabei haben Untersuchungen der französischen Soziologin Isabelle Le Rouzic ergeben, dass es sich bei den sozial Gestrandeten keineswegs um "Faulpelze" handelt. Nur 20 Prozent der Prager ohne Dach über dem Kopf bemühen sich ihrer Studie zufolge nicht aktiv um Arbeit. Der Rest schlägt sich mit schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs durch.

Sozialer Abstieg: Vorwiegend Männer unter Betroffenen

Ein Großteil der Gestrandeten am Rand der Gesellschaft sind Männer. Viele von ihnen haben nach ihrer Scheidung den Boden unter den Füßen und mit der Partnerin auch die Wohnung verloren. Bei der Zuteilung von staatlichem Wohnraum haben sie die schlechtesten Chancen. Wer noch dazu auf eine kriminelle Vergangenheit zurückblickt, hat überhaupt schlechte Karten.

Sozialdienste wie der Verein "Nadeje" bemühen sich, die Gestrandeten mit dem Allernötigsten zu versorgen. In einem weiteren Schritt soll die Reintegration in die Gesellschaft gelingen. Zunächst wird versucht, einen Job für den Betroffenen zu finden, dann soll es über betreutes Wohnen weiter bergauf gehen.

Obdachlose sind in der Tschechischen Republik ein relativ neues Phänomen. Vor der Wende 1989 stand so gut wie jedem eine Arbeiterwohnung zur Verfügung, daneben existierte die von der KP verordnete Arbeitspflicht.