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Die Neurophilosophie, wie sie unter anderem von Patricia Churchland vertreten wird, arbeitet an einer naturwissenschaftlich informierten Lehre vom menschlichen Selbstverständnis.
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Als heuer bei Suhrkamp ein Buch mit dem Titel "Selbst im Spiegel" erschien, fand man auf der rückwärtigen Umschlagseite plakativ angebracht ein einziges Zitat: "Der Mensch ist eine Maschine, die ihre Lebenswelt kollektiv erfindet" - also eine Collage aus talkshowtauglichen Reizworten. Der Autor Wolfgang Prinz ist emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Wieso er bereit war, diesem Klappentext zuzustimmen, obwohl er nicht der Ansicht ist, dass Menschen Maschinen ohne freien Willen sind, ist rätselhaft.
Vielleicht hat irgendjemand mit einem gesteigerten Interesse empörter humanwissenschaftlich geprägter Leser spekuliert. Man kann das schon verstehen. Denn der isoliert hingestellte Satz ist dazu geeignet, oft anzutreffende Vorurteile wach zu rufen. Etwa: Das ist doch einmal mehr jene Mentalität, die in Menschen Automaten sieht, mit denen man ohne jede moralische Verpflichtung verfahren kann - ihre industrielle Vernichtung eingeschlossen.
Am Rand des Wissens
Gerade weil die These von der inhärent entmenschlichenden Wirkung der naturwissenschaftlichen Sicht der Realität noch Anhänger hat, ist es notwendig, an einen Mann zu erinnern, dessen Lebenswerk von ungebrochener Aktualität ist: Jacob Bronowski war ein aus Polen stammender Mathematiker, der sich, gefördert durch die BBC, zu einem gefeierten, auf Fernsehen spezialisierten Wissenschaftspublizisten entwickelte, wobei er mit der Serie "Der Aufstieg des Menschen" Weltruhm erlangte.
In einer Episode dieser Serie ließ sich Bronowski vor dem Hintergrund der Sümpfe um Auschwitz filmen - dort wo die Asche von vier Millionen Menschen, darunter einige seiner Verwandten, verstreut worden war. Er begleitete die Filmsequenzen mit dem Kommentar: "Die Wissenschaften enthumanisieren die Menschen nicht und verwandeln sie nicht in Nummern. Das hat Auschwitz getan, und zwar nicht durch Gas, sondern durch Arroganz. Das ist es, was geschieht, wenn sich Menschen anmaßen, über das Wissen von Göttern zu verfügen, ohne dass es eine Methode gäbe, dieses Wissen an der Realität testen zu können . . . Wir befinden uns immer am äußersten Rand des Wissens. In den empirischen Wissenschaften ist jedes Urteil ein persönliches Urteil, gefällt an der Kante zum Irrtum. Die Wissenschaft ist ein Tribut an das, was wir wissen können, obwohl wir fehlbar sind."
Bronowski war ein Pragmatiker in der Tradition von William James und Peirce, grundiert mit einem trotz aller Schocks nicht ganz versiegenden Optimismus. Etwas davon klingt auch heute noch in den programmatischen Erklärungen von Obama an.
Viel davon findet man auch in dem jüngsten Buch der großen kanadisch-amerikanischen Neurophilosophin Patricia Churchland, einer humanistischen Denkerin ohne den Hintergrund der religiös getönten amerikanischen "civil religion": Churchland ist die Doyenne der heutigen neurophysiologisch informierten Philosophie des Geistes. Sie ist auf einer entlegenen Farm in der kanadischen Provinz aufgewachsen, und hat von dort aus - ermöglicht von Stipendien - ihren Weg zur Spitze des akademischen Establishments angetreten. Sie begann an der Universität von Pittsburgh, wo sie in einem Seminar über Platon ihren Mann Paul kennenlernte. (Die Churchlands sind in der Philosophie des Geistes eines der beiden prominenten Paare. Das zweite, englische, ist Chris und Uta Frith).
Patricia hat an der Universität Oxford studiert, bevor sie an der Universität von Manitoba ihre erste akademische Stellung fand. In dieser Zeit hat sie dann einen Schritt getan, der unter Philosophen damals als verrückte Schrulle verbucht wurde: Sie ging zu den Medizinern, die sich mit realen Hirnen beschäftigten. Ihre derart erworbenen naturwissenschaftlichen Kenntnisse trugen ihr eine Professur an der Universität von Kalifornien ein.
"Ich hasse das Gehirn"
Ihr jüngstes Buch beschreibt, wie ein Landmädchen aus der kanadischen Provinz zur Doyenne der Neurophilosophie wurde und dabei nie ihren Hausverstand opferte. Einen erfrischenden Teil ihres Buches widmet sie der weit verbreiteten Abwehrhaltung gegenüber der Neurophysiologie, die als empirisches Wissen an den Nerven mancher Philosophen zerrt. Sie beschreibt den Ausbruch eines Philosophen, der in einer Konferenz aufsprang und schrie: "Ich hasse das Gehirn. Ich hasse das Gehirn".
Auch Churchland ist irritiert durch die Flut von bunt angefärbten Resultaten der funktionalen Kernresonanz, die sie wie folgt kommentiert: "Manchmal hat man den Eindruck, dass die Neurowissenschaft mehr über mich weiß, als ich selbst. Solche Bilder erklären jedoch gar nichts. Sie zeigen nur Korrelationen zwischen psychologischen Zuständen meines Gehirns - etwa Fühlen oder Denken - mit einer geringfügig erhöhten Aktivität in bestimmten Hirnregionen. Sie zeigen nicht einmal, dass es im Hirn Module gibt, in denen eine bestimmte Funktion lokalisiert ist - etwa so wie bei einem Auto der Gashebel. Eine der großen offenen Fragen ist: Was machen die anderen Regionen, während der Scanner läuft? Nicht einfach nichts. So viel ist bekannt . . . Es sind noch so viele fundamentale Fragen offen. Wir wissen nicht, warum wir schlafen und träumen oder welche neuronalen Mechanismen im Hirn höheren kognitiven Funktionen zugrunde liegen."
Dummer "Neurojunk"
Trotzdem existiert eine Flut von Büchern, in denen die absonderlichsten Dinge behauptet werden. Churchland hält sie für verdrießlichen "Neurojunk" - so irreführend wie einst die Behauptung, die Evolutionstheorie hätte gezeigt, dass unsere Großeltern Affen waren.
Churchland sieht das Hirn als Teil eines offenen dynamischen Systems, eingebettet in eine Kultur. Es ist ein Teil unseres evolutionären biologischen Erbes, unser Verhalten und das Verhalten Anderer als Produkt unserer mentalen Zustände - etwa Angst, Hoffnung, Wünsche - zu sehen. Das verhilft uns dazu, treffsicherer vorhersagen zu können, was Andere tun werden, und zwar im Besonderen als Reaktion auf unser eigenes Verhalten. So entstanden neuronale Schaltkreise, in denen repräsentiert ist, was wir tun und was wir vermeiden sollten. Diese neuronalen Mechanismen haben sich in der Evolutionsgeschichte des menschlichen Hirns im Tandem herausgebildet.
Moralische Werte wie Respekt vor empirisch geprüften Tatsachen, Ehrlichkeit, Loyalität oder Mut entstehen durch "Erlernen der lokalen Konventionen und Auseinandersetzung mit narrativen Geschichten, die uns ein Gefühl dafür vermitteln, worin gutes Handeln besteht". Man handelt frei, wenn man eine Handlung bewusst plant, sie ausführen kann und in einem hinreichend kontrollierbaren mentalen Zustand ist.
Die Tatsache, dass bei der Genese der Moral religiös vermittelte Vorstellungen wie die Seele nur in der kulturellen Vermittlung eine Rolle spielen ist Patricia Churchland ebenso wenig bereit zu vergessen wie die Zumutungen, die gerade für Frauen schon aus religiös geprägten Denkquartieren kamen - etwa die Vermutung, dass es verwerflich sei, gebärenden Frauen bei schweren Geburten durch Narkose zu helfen, weil doch in der Bibel stünde, es sei das gottgewollte Schicksal von Frauen, unter Schmerzen Kinder zu gebären. Als Churchland vor Präsident Bushs Bioethik- Kommission die Ansicht, dass Schutzimpfungen ein Eingriff in Gottes Pläne seien, kritisierte, wurde sie von einem greisen katholischen Moralphilosophen als moralisch abscheulich eingestuft.
Dieser Mann hat außerdem mit mahnend erhobenem Zeigefinger einen Verdacht geäußert: nämlich, dass Churchland eine Optimistin sei und an eine Veränderung von Ansichten denke. In ihrem jüngsten Buch merkt sie dazu an: "Auf die Idee, dass Optimismus ein Laster sein könnte, war ich nie gekommen." Ihr Optimismus reiche dazu aus, anzuerkennen, dass es naturwissenschaftliche Entdeckungen gibt, die das Leben fraglos besser machen - etwa die Kinderlähmungs- oder Pocken-Schutzimpfung.
Natürlich sollte man den Unterschied zwischen einem manchmal psychologisch angenehmem Optimismus und der auf empirischen Informationen basierenden Hoffnung nicht vergessen. Es ist immer angebracht, vorsichtig zu sein und Behauptungen zu hinterfragen. Die Logik ist nur ein Samen, nicht mehr.
Churchlands Buch ist ein Anmerkungskapitel angefügt, das besonders wertvoll ist, weil es auch die in den kritischen Diskussionen gewonnenen Bewertungen zusammenfasst. Gerne hätte man sich allerdings gewünscht, dass dieser Teil ausführlicher geworden wäre.
Diese Ansicht teilt auch Chris Frith in einer ersten Besprechung des Buches an sehr prominenter Stelle - nämlich in der "Nature". Dort konstatiert er, dass die im Buch enthaltene Neurophysiologie genau und auf dem heutigen Stand ist. Das ist besonders wertvoll, da Frith im Hinblick auf Kompetenz in Neurophysiologie und Weite des kulturellen Kontexts mit Churchland vergleichbar ist. Er zitiert Churchlands Vermutung, dass selbst die Experten in ihrem tiefsten Denken immer noch Dualisten seien. Und er zitiert dann seiner Denktradition entsprechend eine Veröffentlichung, welche den Gedanken nahelegt, dass sich daran auch nichts ändern könnte: ein amerikanisches Team habe unlängst mit funktionaler Kernresonanz gezeigt, dass es zwei im Hirn hinreichend gut abgrenzbare Aktivitätsmuster gebe, von denen das eine aktiviert sei, wenn man über physikalische Kausalität nachdenke (etwa: Wieso aktivieren hohe Temperaturen unsere Schmerzrezeptoren), das andere dagegen beim Nachdenken über soziale Fragen (etwa: Wieso verärgert uns Ungerechtigkeit). Diese beiden Aktivierungsmuster sind an-tagonistisch - die Aktivierung des einen schwächt das andere. Beide können nicht zur gleichen Zeit aktiv sein.
Weitgehende Schlüsse
Diese Arbeit war bei privaten Gesprächen am Rande des heurigen europäischen Forums Alpbach mit einem der führenden Neurophysiologen, der auch in Neurophilosophie kompetent ist, Gegenstand der Kritik. Sie betraf nicht die Neurophysiologie, sondern die weitreichenden philosophischen Behauptungen, welche das amerikanische Team daraus ableitete - nämlich, dass es nie gelingen könnte, die Entstehung von Bewusstsein zu erklären.
Hans Flohr vermochte dem ebenso wenig abzugewinnen wie anscheinend Patricia Churchland. Und Frith schließt mit einer Vermutung über den Erfolg von "Neurojunk": "Ich kann nur annehmen, dass es sich dabei um das heutige Äquivalent der ehemaligen gruseligen Gespenstergeschichten handelt. Wir lieben es von dem Gedanken erschreckt zu werden, dass wir nicht mehr sind als die 1,5 kg zu Gefühlen fähigen Fleisches aus dem unser Hirn besteht."
Peter Markl unterrichtete an der Universität Wien Analytische Chemie und Methodik der Naturwissenschaften. Er ist sowohl Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung als auch Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.
Literatur:
Wolfgang Prinz: Selbst im Spiegel. Die soziale Konstruktion von Subjektivität. Suhrkamp, Berlin 2013, 502 Seiten.
Patricia S. Churchland: Touching a nerve. W. W. Norton, New York 2013, 304 Seiten (Kindle Edition verfügbar).
Chris FRITH: Neurophilosophy: My brain and I. Nature on line vom 17. Jull 2013.
Anthony I. .JACK et al.: fMRI reveals reciprocal inhibition between social and physical cognitive domains. NeuroImage 66 (2013), 385-401.