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Präsident Beji und der Zorn Gottes

Von Muna Duzdar

Gastkommentare

In keinem anderen arabischen Land tritt die Zivilgesellschaft so mutig auf wie in Tunesien.


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So oft habe ich mich - wohl auch beeinflusst von einer Wunschvorstellung - gefragt: Wie hätte sich eigentlich die arabische Welt entwickelt, hätte man das viele Erdöl in Tunesien oder einem der ressourcenarmen Maghreb-Staaten gefunden und nicht in der Golfregion? Warum wollte es der Zufall, dass es gerade in dem Teil der arabischen Welt entdeckt wurde, in dem der Konservatismus immer schon sehr stark ausgeprägt war? Warum mussten ausgerechnet diese Länder über so viel Geld verfügen, um eine reaktionäre Ideologie seit den 1990ern über die Satellitenschüsseln in die ganze Welt zu verbreiten, mit bekannten weitreichenden Folgen?

Es wäre natürlich zu kurz gegriffen, politische Entwicklungen auf dieses einzige Element zu reduzieren. Da gab es noch einige Kriege und Militärinterventionen dazwischen, die Staaten wie Kartenhäuser zusammenbrechen ließen. In deren Vakuum konnten sich reaktionäre und letztlich auch gewaltbereite extremistische Kräfte einnisten, siehe Irak 2003 oder Libyen 2011.

Diese Gedanken kommen mir wieder in den Sinn, als ich am tunesischen Frauentag (13. August), einem nationalen Feiertag, in einem Taxi in Kelibia sitze. Im Radio ist gerade die Ansprache des tunesischen Präsidenten Beji Caid Essebsi zu hören. Zwei Tage zuvor haben die politisch Konservativen eine große Demonstration gegen die weitere gesetzliche Gleichstellung von Frauen veranstaltet. In Reaktion darauf sagt Essebsi, im Volksmund meist nur Beji genannt, Folgendes: "Unsere einzige Referenz für unsere politischen Vorhaben ist allein unsere Verfassung 2014 und nicht die Religion, auch nicht der Koran. Wir sind ein ziviler Staat und daher ist die Frauenfrage danach zu beurteilen."

Gleichstellung der Frauen, Abschaffung der Todesstrafe

Mit diesen Worten kündigt der Präsident an, die Resultate und Empfehlungen der ein Jahr zuvor eingesetzten Gleichheitskommission als Gesetzesvorschlag dem Parlament weiterzuleiten. Im Entwurf enthalten ist unter anderem die Aufhebung der Diskriminierung der Frauen im Erbrecht (sie erben derzeit nur die Hälfte dessen, was die Männer erben). Ein Jahr zuvor hat der tunesische Präsident den Erlass aus dem Jahr 1973 aufgehoben, der muslimischen Frauen jahrzehntelang verboten hatte, Nichtmuslime zu heiraten. In Europa etwas Selbstverständliches, in der arabischen Welt scherte Tunesien mit der Aufhebung des Verbotes aus. Die ägyptische Al-Azhar-Universität bezeichnete das Vorgehen als "unislamisch", und einige Scheichs derselben Universität sagten aktuell zur Frage der Gleichstellung im Erbrecht: "Der Beji wird im Jenseits dafür bestraft werden." Tunesien ist damit das erste muslimische Land, das die Diskriminierung von Frauen vollends aufheben möchte und ihre weitere Gleichstellung forciert.

Die Empfehlungen der Gleichheitskommission gehen aber weit darüber hinaus. Unter anderem wird die Abschaffung der Todesstrafe (die nicht vollzogen wird) vorgeschlagen, ebenso die Entkriminalisierung von Homosexualität (steht in Tunesien unter Verwaltungsstrafe) und die Gleichstellung unehelicher Kinder mit ehelichen.

Das Land ist durch diese gesellschaftspolitischen Diskussionen polarisiert, aber in keinem anderen arabischen Land traut sich die Zivilgesellschaft, so mutig für die Gleichstellung der Frauen, der Homosexuellen, der unehelichen Kinder einzutreten wie in Tunesien. Was hebt Tunesien also von anderen arabischen Ländern ab? Ist es möglich, dass es nur ein paar historische Persönlichkeiten waren, die dieses Land so umfassend geprägt haben, oder ist es die besondere gesellschaftliche Dynamik?

Fortschrittliche Gesellschaft, aber traditionelle Rollenbilder

Während meiner Reise treffe ich das Ehepaar Melika Ouelbani und Ridha Chennoufi. Sie sind Philosophieprofessor und -professorin. Sie schenken mir ein Buch von Tahar Haddad aus dem Jahr 1930 mit dem Titel "Unsere Frau in der Scharia und der Gesellschaft". Dieses kritische Buch legte den Grundstein für die Gleichstellung der Frauen in Tunesien.

Habib Bourgiba, der erste Präsident der Tunesischen Republik, stützte sich inhaltlich auf dieses Buch, als er am 13. August 1956 die Abschaffung der Polygamie, der Zwangsehe und der männlichen Vormundschaft über Frauen veranlasste. Seither ist der 13. August der tunesische Frauentag. Seit den 1970ern sind Pille und Abtreibungen in Tunesien gratis.

Mit dem Übergang zur Demokratie hat das Parlament Wahlgesetze beschlossen, die ein Reißverschlusssystem und eine 50-prozentige Frauenquote bei den Wahllisten aller Parteien bei allen Wahlen vorsehen, auch bei den Kommunalwahlen. Es war mir fast schon unangenehm, auf einer Konferenz zum Thema Frauen in den Kommunen, zu der ich eingeladen war, zu erklären, dass wir in Österreich nur 160 Bürgermeisterinnen in 2100 Gemeinden haben, denn die Erwartungshaltung an europäische Länder in puncto Gleichstellung ist hier sehr groß.

Es liegt mir fern, ein romantisches Bild von Tunesien zu zeichnen. Keine Frage, trotz gesetzlicher Fortschritte und Besonderheiten sind die Rollenbilder hier nach wie vor sehr traditionell. In den Cafés sieht man fast nur Männer, die sich dort die Zeit vertreiben. Mein Eindruck ist, dass die Frauen hier die Hosen anhaben. Sie gehen arbeiten und kümmern sich auch um alles andere. Man könnte beinahe glauben, man hätte es hier mit einem berberischen Matriarchat zu tun.

Doch ganz so ist es nicht: Auch hier schwappt der politische Konservatismus über. Es ist ein Trend der Zeit: Die politisch Konservativen, deren Vorbild die türkische AKP ist, arbeiten sehr geschickt. Sie sind gut organisiert, fähig in der Mobilisierung und haben Geld. Die Armen werden karitativ mit Geld und Lebensmitteln unterstützt.

Währenddessen ist das politische Spektrum, das sich hier progressiv nennt, zum Teil korrupt und zum Teil zersplittert. Aber die Frauenorganisationen und die Zivilgesellschaft halten mit voller Kraft stark dagegen. Radhia Jerbi, die Präsidentin der UNFT, der nationalen Frauenorganisation, betont: "Wir verteidigen frauenpolitische Errungenschaften nicht nur. Wir bauen sie aus und erweitern sie. Rückschritt zulasten der Frauen nehmen wir nicht in Kauf!" Das sind keine leeren Worte. Wer die starken Frauen hier kennengelernt hat, erkennt, dass diese genau wissen, was zu tun ist.

Aus Europa kommen bloß Lippenbekenntnisse

Eine tunesische Freundin hat mir erzählt, dass sie im Jahr 2011 vor dem Parlament demonstrierte - aus Protest gegen den damaligen Wahlsieg der Konservativen. Dann kam der Chefideologe der Konservativen, Rachid Ghannouchi vorbei. In einem unbeobachteten Moment ging sie zu ihm, nahm ihn am Arm, schaute ihm tief in die Augen und sagte: "Hör zu! Glaub bloß nicht, dass du hier machen kannst, was du willst. Wir beobachten deine Taten ganz genau!" Wer die 70-jährige Amel kennt, weiß, dass sie dazu in der Lage ist. Sie saß bereits unter Bourguiba als linke Journalistin im Gefängnis und wurde gefoltert.

Nachdem ich mit einer Frage begonnen habe, möchte ich auch mit einer Frage enden. Warum werden arabisch-muslimische Länder, die bemüht sind, menschenrechtliche Fortschritte zu machen, Länder, die vorbildhaft in Fragen der Frauenrechte agieren, nicht stärker unterstützt? Österreich hat seine Entwicklungsprojekte hier vor 20 Jahren eingestellt, und auch von anderen europäischen Ländern ist nicht mehr zu hören als Lippenbekenntnisse. An wirklichen Aktionen oder Initiativen fehlt es. Wollen wir die Frauen in Tunesien unterstützen sowie die Demokratie und damit die Weiterentwicklung der tunesischen Gesellschaft vorantreiben, dann müssen wir vor allem helfen, die wirtschaftliche Entwicklung zu stärken. Alles steht und fällt damit. Solange das Land wirtschaftlich schwächelt und die soziale Ungleichheit zunimmt, werden die politisch-Konservativen zulasten der Frauen und letztlich auch zulasten der Demokratie stärker. Das kennen wir nicht nur aus Tunesien, sondern von überall anders auch.

Daher ist es das Gebot der Stunde, die Kooperationen mit Ländern wie Tunesien zu vertiefen. Nur so kann Progressivität im arabischen Raum gestärkt werden.

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