Der AKP-Chef versucht vor den vorgezogenen Parlamentswahlen am Sonntag, seine Position gegenüber der EU für sich zu nutzen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der Syrien-Konflikt hat die EU-Regierungschefs einige Lektionen gelehrt. Einerseits erkennt man jetzt klarer als zuvor die Nachwirkungen des Arabischen Frühlings, der als misslungen betrachtet werden muss. Zunehmender Terrorismus, Bürgerkriege und ein Einbruch des Tourismus in den betroffenen Ländern sind nämlich dessen direkte Folgen. Andererseits zeigt die Flüchtlingskrise aber auch, wie wichtig europäische Nachbarschaftspolitik ist. Dies hat der vergangene Besuch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel in der Türkei bewiesen, bei dem sie der Führung in Ankara erste Zugeständnisse seitens der EU in Aussicht gestellt hat.
Vor den vorgezogenen Parlamentswahlen am Sonntag kommt Staatschef Recep Tayyip Erdogan dieses Angebot sehr entgegen. Seine Partei, die AKP, hat nämlich nach den jüngsten Bombenanschlägen in Ankara noch mehr Glaubwürdigkeit eingebüßt. Mit einem aggressiven Pro-EU-Kurs versucht Erdogan wohl nun, diesem Negativtrend entgegenzuwirken.
Kaum zwei Jahre ist es her, dass der türkische Präsident wegen der Niederschlagung von Protesten in Istanbul ins Kreuzfeuer westlicher Kritik geriet. Jetzt inszeniert sich Erdogan als Helfer in der Not des europäischen Flüchtlingschaos. Reichlich spät, könnten Kritiker einwenden, denn genau demselben Mann wird von zahlreichen Oppositionellen vorgeworfen, IS-Rebellen mehr oder weniger aktiv aufgerüstet zu haben, um diese als Waffe gegen die Kurden einzusetzen. Selbst gegen seine Tochter Sümeyye haben einige arabische Medien schwere Vorwürfe erhoben: Sie soll ein Spital in Sanliurfa, einer Stadt im Südosten der Türkei, geleitet haben, in dem syrische IS-Milizen verpflegt werden.
Eine Verurteilung der islamistischen Rebellen war für die türkische Regierung bisher nicht vorrangig. Unter Präsident Erdogan hat sich die Türkei immer weiter vom Westen abgewandt und enge Freundschaftsbande mit Saudi-Arabien und dem Emirat Katar geknüpft, die als Exporteure des radikal-islamischen Fundamentalismus gelten. Diese Sympathien verstärkten sich, als Erdogan Syriens Machthaber Bashar al-Assad, den er jahrelang als Freund und Verbündeten schätzte, den Krieg erklärte.
Wie glaubhaft ist also ein Staatsmann, der nur Hilfe gewährt, wenn die Europäische Union seinen Forderungen - nämlich einer Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei - nachkommt? Und wie verlässlich ist ein Präsident, der sich als glühender Nationalist gibt und genau deshalb mit der EU, Israel und Russland verfährt, wie es ihm gerade gefällt?
Der Verdacht drängt sich auf, dass Erdogan die Flüchtlingskrise zu seinen Zwecken missbraucht, indem er klug taktiert und seine Trümpfe gegen Europa ausspielt. Die Nato und die USA, die trotz diplomatischer Meinungsverschiedenheiten einen nicht gerade geringen Einfluss auf die Türkei ausüben, hätten Erdogans Kabinett dazu anleiten können, sich früher und stärker für eine Befriedung der umkämpften Grenzregion einzusetzen. Dann hätte man in der Tat von einem Entgegenkommen sprechen können. Von Frieden im Nahen Osten würde die Türkei auch weit mehr profitieren als von Erdogans heiß ersehntem EU-Beitritt.