Paris/Berlin/Luxemburg. Europäische Tageszeitungen beschäftigen sich am Freitag mit der um Mitternacht vollzogenen Erweiterung des Schengen-Raumes um neun neue EU-Mitgliedstaaten. Überwiegend wird der Fall der Grenzen als historisches Ereignis und europäisches Erfolgsprojekt gewürdigt, zugleich wird vor einem Anstieg der Kriminalität gewarnt.
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"Le Monde" (Paris):
"Der Wegfall von Kontrollen an den Binnengrenzen bedeutet eine wirksame Sicherung der Außengrenzen des Schengen-Raumes. Schon werden Stimmen laut, die vor verstärkter Gefahr der illegalen Einwanderung aus dem Osten warnen. Diese Sorgen sind verständlich. Kriminelle Organisationen und Schwarzhändler aller Couleur werden vermutlich versuchen, die neue Situation auszunutzen. Mit dem Schengen-System sollen auch die Polizeikräfte der Mitgliedsländer enger zusammenarbeiten. Doch diesbezüglich sind die Erwartungen der Europäer noch lange nicht erfüllt. Es fehlt häufig der politische Wille. Jetzt sind die europäischen Behörden gefragt, Effizienz und gleichzeitig die Achtung der Menschenrechte unter Beweis zu stellen. Das ist eine gewaltige Herausforderung."
"Dernieres Nouvelles d'Alsace" (Straßburg):
"Wer die Warteschlangen vor den Konsulaten Europas in Russland, Marokko oder anderswo gesehen hat muss zugeben, dass Europa eine Festung geworden ist. Diese Festung hat mit der Erweiterung ihre Mauern noch erhöht, doch gegen die illegale Einwanderung wird man kaum etwas ausrichten können, solange es keine gemeinsame europäische Einwanderungspolitik gibt. Nötig wären Hilfen für die Ursprungsländer und eine wirkliche Integrationspolitik für die Einwanderer, die aufgenommen werden. Vielleicht wird dies ab 2010 möglich, wenn der Vertrag von Lissabon seine volle Gültigkeit erlangt. Selbst wenn die Ausweitung des Schengen-Raumes eine wünschenswerte Entwicklung ist, so werden dabei ohne die begleitende Politik die Ochsen vor den Wagen gespannt."
"Frankfurter Rundschau":
"Heute ist so ein Tag, an dem Europa zeigt, dass der Weg in die Herzen seiner Bürger eigentlich ganz einfach zu finden ist. (...) Es ist ein Tag, an dem Europa ein Stück weiter zusammenwächst und Brüssel den Menschen das Leben leichter macht. So, wie es seinen Bürgern gefällt. Natürlich wird auch diese Erweiterung des sogenannten Schengen-Raums begleitet von großen Sorgen. Die Polizei etwa sorgt sich darüber, ob die neuen Außengrenzen der EU zu Russland oder der Ukraine ausreichend Schutz bieten gegen die gut organisierte Kriminalität, gegen den internationalen Drogen- und Menschenhandel. (...) Tatsächlich aber ist Europa durch die Öffnung seiner Binnengrenzen niemals unsicherer geworden, sondern nur offener und toleranter."
"Leipziger Volkszeitung":
"Die anberaumte Gute-Laune-Stimmung wird getrübt durch zunehmende Autodiebstähle und Hauseinbrüche im ostdeutschen Grenzgebiet. Oder durch die Bilanz von der bayerisch-tschechischen Grenze, wo allein im letzten Jahr 900 per Haftbefehl Gesuchte festgenommen wurden. Doch bei aller berechtigten Aufgeregtheit: Der erweiterte Schengen-Raum ist nicht der Wilde Westen. Und die Vorteile lassen sich nicht ignorieren. Noch-Exportweltmeister Deutschland profitiert vom schnellen Grenzverkehr, denn Zeit ist Geld. Auch im Urlaub lassen sich Nerven sparen. Hat man sich nicht an die Annehmlichkeit gewöhnt, ohne Passkontroll-Stau über den Brenner nach Bella Italia zu fahren? Nun geht's also stressfrei auch nach Prag oder ins Riesengebirge, so schön kann Reisefreiheit sein."
"Luxemburger Wort":
"Wer erinnert sich nicht an die starken, wegweisenden und optimistischen Worte von US-Präsident Ronald Reagan am 12. Juni 1987 an Michail Gorbatschow vor dem Brandenburger Tor in West-Berlin: 'Tear down this wall', reißen Sie diese Mauer nieder. Zwei Jahre später ist die Berliner Mauer gefallen. Und mit ihr der Eiserne Vorhang und die realexistierende kommunistische Diktatur. Zumindest in Europa. Es war dies nicht ein Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus, ja nicht einmal des Individualismus über den Kollektivismus: die eigentliche Ursache für den Fall der Mauer war die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit. (...) Seit Mitternacht sind nun in neun weiteren Ländern im Osten des Alten Kontinents die Grenzen gefallen: der definitive und für die Menschen endlich konkret spürbare Fall des Eisernen Vorhangs. Schengen macht dies möglich. Luxemburg und auch Schengen dürfen stolz darauf sein, dass der Name des Mosel-Dorfes mittlerweile zum Synonym für Reisefreiheit in der EU geworden ist. Und auch für Sicherheit, für ein Mehr an Sicherheit. Europa braucht mehr solcher konkreten Erfolgsprojekte mit spürbaren Vorteilen für die Menschen."
"Corriere della Sera" (Rom):
"Seit Mitternacht kann man die tragischste Grenze Europas - die zwischen Deutschland und Polen, wo Millionen Menschen im Kampf gestorben sind - mit den Händen in der Manteltasche überqueren, ohne auch nur ein Dokument vorzeigen zu müssen. (...) Dabei haben weder Deutschland noch Polen einen Krieg gewonnen. Gewonnen hat die Europäische Union, die heute, am 21. Dezember 2007, das grenzlose Gebiet von Schengen um neun neue Länder erweitert. So fallen Jahrhunderte alte Mauern. Dies ist das endgültige Ende des Eisernen Vorhangs, der einst vom Baltischen Meer bis zur Adria die Grenze des Kalten Krieges markierte."
"El Periodico de Catalunya" (Barcelona):
"In der Zeit des weltweiten Terrorismus, der Flüchtlingsströme und der Mafias von Menschenschiebern scheint das Schengen-Abkommen die angemessene Antwort auf die neuen Herausforderungen zu sein. Die traditionelle Form der Souveränität ist veraltet. Nur die Zusammenarbeit der Sicherheitsorgane in den EU-Ländern kann die notwendigen Erfolge bringen. Es hat daher immer weniger Sinn, dass Großbritannien und Irland bei der Schengener Konvention durch Abwesenheit glänzen. Sie sind die Verfechter einer nicht mehr zeitgemäßen Vorstellung von Souveränität. Sie zeigen damit, dass sie dem politischen Zusammenschluss Europas misstrauen und sich lieber dem Diktat der USA unterwerfen."