In der menschlichen Entwicklung nimmt die Unruhe einen entscheidenden Stellenwert ein. In seinem Buch "Die Unruhe der Welt" zeigt Ralf Konersmann die vielfältigen Aspekte dieses Phänomens auf.
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Die Unruhe kann als Antriebsmotor der zeitgenössischen Gesellschaft angesehen werden. Fortschrittsdynamik, ökonomische Produktivität oder berufliche Flexibilität fungieren als positive Leitbilder. Die Soziologen Richard Sennett und Zygmunt Bauman haben in ihren Publikationen darauf hingewiesen, dass die Mobilitätsbereitschaft die Folge der Globalisierung ist, die eine Transforma-tion der Gesellschaft mit sich bringt. Die neuen Slogans lauten "Flexibilität" und "Mobilität", über die alle verfügen müssen, die im Überlebenskampf der New Economy mithalten wollen. Geschätzt wird der Mensch, der stets erreichbar und abrufbar ist.
Diese Überbewertung der Beschleunigung irritierte den in Kiel lehrenden Philosophen Ralf Konersmann und bewog ihn zu der umfangreichen Studie "Die Unruhe der Welt". Darin stellt er die Frage, wie es möglich war, dass die gegenwärtige Beschleunigungskultur solch einen zentralen Stellenwert erlangen konnte. Für Konersmann hängt die gesteigerte Unruhe der gegenwärtigen Gesellschaft zwar mit dem postkapitalistischen Wirtschaftssystem eng zusammen; er versteht jedoch seine Studie keineswegs als eine kritische Anklageschrift gegen die Unruhe- und Beschleunigungsgesellschaft, sondern als eine Phänomenologie der Unruhe. Für ihn ist die Unruhe kein einheitliches Phänomen; sie weist verschiedene Facetten auf, die sich in unterschiedlichen historischen Epochen ausgebildet haben.
Unheilsgeschichte
Der Gegensatz von Ruhe und Unruhe findet sich bereits im Alten Testament. Das Paradies war der Ort eines ständigen Glückszustandes - einer prästabilierten Harmonie, die nicht durch mühselige Arbeit beeinträchtigt wurde. Mit Evas Verstoß gegen das göttliche Gebot, auf den die unwiderrufliche Vertreibung aus dem Paradies folgte, begann die Unheilsgeschichte der Menschheit. Sie wurde durch einen weiteren Sündenfall fortgesetzt, nämlich durch den Mord, den Kain an seinem Bruder Abel begangen hatte, weil er davon überzeugt war, dass Abel von Gott bevorzugt wurde.
Der Brudermord führte zu drastischen Konsequenzen: "Ruhelos und rastlos sollst Du sein!" so lautete der Fluch, der Kain auf seiner Flucht begleitete. Kain wurde zu einem Getriebenen, der "ein schweres Joch zu tagen hatte". Er musste im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdienen. Der Zustand der Ruhe galt nunmehr als Luxus; das Sein-zur-Unruhe charakterisierte die Lebensweise von Kains Nachfahren.
Der Kainsmythos markiert den Beginn einer Epoche, in der die Unruhe als negative Qualität bewertet wurde. So wies der Apostel Paulus darauf hin, dass es unmöglich sei, bereits im irdischen Leben Ruhe zu finden.
Es bedurfte dann vieler Jahrhunderte, um die Deutung der Unruhe als Fluch zu revidieren. Der englische Philosoph Francis Bacon, der von 1561 bis 1626 lebte, sah die Unruhe als Chance, einen Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit zu erzielen. Die Unruhe - in Form der theoretischen Neugierde - sollte vor allem die wissenschaftliche Forschung vorantreiben. Bacon verstand seine Philosophie in dem Hauptwerk "Novum Organum" als radikale Innovation, deren Intention bereits im Titelblatt anschaulich gemacht wird. Dort sieht man die Ausfahrt von Schiffen, die im Auftrag der Wissenschaft in den weiten Ozean aufbrechen. Die Programmatik der wissenschaftlichen Expedition hat Bacon in der Bildunterschrift formuliert: "Viele werden rastlos umherirren und das Wissen wird wachsen", heißt es da. Bacon ging noch davon aus, dass die Unruhe, die den wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht, nur vorübergehend sein würde; sobald das vollständige Wissen ausgebildet sei, könne sich die Ruhe, die im Paradies herrschte, wieder einstellen.
Im 17. Jahrhundert erfuhr die Unruhe eine Transformation: Sie mutierte zur inneren Unruhe, die die physische Beschaffenheit des Menschen regelte, von der man annahm, dass sie analog einem Uhrwerk funktionierte. Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, dessen dreihundertster Todestag sich am 14. November dieses Jahres jährt, bestimmte die Unruhe - l’inquiétude - als rein funktionale Antriebskraft, die wie das Pendel der Uhr wirkt und den Körper ständig in Bewegung hält. "Das erzeugt einen ständigen Widerstreit", notierte Leibniz, "der ganz meine Zustimmung findet."
Die Verwendung der Uhrwerkmetapher brachte einen neuen Aspekt in die Bewertung der Unruhe; sie fungierte nicht mehr als Folge des Sündenfalls, sondern als physisches Symptom, das man empirisch nachweisen konnte.
Im 18. Jahrhundert wurde dann das Bacon-Projekt einer dynamischen Wissenserweiterung von den französischen Aufklärern fortgesetzt: Rund einhundertsiebzig Gelehrte, darunter Philosophen und Wissenschafter wie Diderot, Voltaire, Montesquieu, d’Alembert, d’Holbach, Condillac und Condorcet arbeiteten an der "Encyclopédie", in der das gesamte zeitgenössische Wissen versammelt werden sollte. Sie waren von der Idee fasziniert, dass es ein gültiges, geprüftes Wissen gebe, das man sammeln und dem gebildeten Publikum zur Verfügung stellen könne.
Produktive Hektik
Dieser vermeintliche Ruhe-Zustand, der durch die Kanonisierung des zeitgenössischen Wissens erzielt wurde, entpuppte sich jedoch bald als Illusion. Das stets anwachsende Wissen konnte nicht in einem Monumentalwerk aufbewahrt werden. Wie Denis Diderot resignierend feststellte, bewegten sich bereits die ersten Bände nicht mehr auf der Höhe des aktuellen Wissensstandes.
Auch hier war die Unruhe die treibende Kraft, die sich allen Versuchen der Domestizierung entzog. Sie wurde von den Enzy-klopädisten zur wesentlichen Produktivkraft der Neuzeit stilisiert. Die Unruhe trage dazu bei, die Menschen aus ihrem dogmatischen Schlummer zu reißen - so lautete die These der Aufklärer -, um das Potenzial ihrer Fähigkeiten auszuschöpfen, das im Paradies, wo Langeweile und Stillstand herrschten, verschüttet war.
Die Unruhe trieb zwar die Entfaltung der Moderne entscheidend voran, sie stieß aber auch auf Ablehnung oder zumindest auf tiefgehende Skepsis. Bereits in dem Kunstmärchen "Der Hase und der Igel" wird der Gegensatz zwischen Beschleunigung und Entschleunigung thematisiert, wobei der schlaue Igel - der Vorläufer der Entschleunigungsbewegung - es verstand, den Hasen durch eine List zu übertölpeln: Der von sich eingenommene Hase hatte ihn zu einem Wettlauf aufgefordert, den der Igel gewann, weil er am Ende der Strecke seine zum Verwechseln ähnlich sehende Frau platzierte.
Gegen eine positive Sichtweise der Unruhe wandte sich auch der französische Philosoph Blaise Pascal, der von 1623 bis 1662 lebte. Für den christlichen Mystiker und Analytiker der menschlichen Existenz war die Unruhe das Signum einer dekadenten Epoche, in der der Mobilität Vorrang eingeräumt wurde. Der Vorwurf von Pascal lautete, dass Zufälle und Zusammenhanglosigkeit die Neuzeit bestimmten, die durch den Verlust der Ruhe jegliches Maß verloren habe. Aus Angst, die eigene Leere und Sinnlosigkeit einzugestehen, suche der Mensch die Zerstreuung auf allen Gebieten.
Das Unglück beginne damit, dass die Menschen unfähig seien, "in Ruhe allein in ihrem Zimmer zu bleiben". Das Ergebnis dieser Unfähigkeit bestehe darin, immer neuen Erlebnissen und Sinneseindrücken nachzujagen. "Der Mensch flieht um der Flucht willen, er sucht, um zu suchen, jagt, um zu jagen", schrieb Pascal. Die permanente Fluchtbewegung führe dann dazu, dass der Mensch verlerne, in der Gegenwart zu leben: "Niemals halten wir uns an die Gegenwart. Wir nehmen die Zukunft vorweg, als käme sie zu langsam, als wollten wir ihren Gang beschleunigen. Niemals ist die Gegenwart Ziel".
In der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte ein Beschleunigungsschub, der auf den technischen Innovationen beruhte. Der Soziologe Georg Simmel erinnerte sich an seine Jugend in Berlin, die "von schreienden Lichtreklamen, rasselnden Straßenbahnen, keuchenden Omnibussen, giftig grünem Gaslicht und von einem wahnsinnigen Getöse einer tobenden Menschenmasse geprägt wurde". Diese "prickelnde Hochspannung", wie sie der Ingenieur Wilhelm Berdrow - der Verfasser der Geschichte der Firma Krupp nannte - übertrug sich auf die psychische Disposition der Menschen. Die innere Unruhe, die Pascal als Merkmal der Neuzeit ortete, firmierte nunmehr unter der Bezeichnung "Nervosität", die sich sowohl im privaten als auch im gesellschaftspolitischen Bereich artikulierte.
In diesem Jahrzehnt häuften sich die Klagen über eine gesteigerte Nervosität. Der Erfinder Eugen Diesel empfand sich als "Hochdruckmensch". Nach eigener Aussage litt er unter einem "schrecklichen Hin und Her", unter einem "ewigen Hetzen und Jagen".
Sinnes-Erregung
Diesels Beschreibung trifft auch auf die gegenwärtige Spektakelgesellschaft zu, in der die Unruhe in Form einer ständigen Sinnes-Erregung potenziert wird. Sie erfolgt nicht nur im Bereich der Arbeitswelt, sondern betreibt auch die unüberschaubare Apparatur der Freizeit- und Kulturindustrie, die für den Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno das Synonym für eine gedankenlose Zerstreuung darstellte, die zur intellektuelle Entmündigung der Menschen beitrug. In seiner Aphorismussammlung "Minima Moralia" plädierte Adorno dafür, sich - wenigstens punktuell, - dem von Unruhe angetriebenen Leben im ganz "Falschen" zu entziehen, um durch Kontemplation einen Zustand der Ruhe zu erreichen: "Auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung könnte an Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten."
Literatur:
Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt. S. Fischer Wissenschaft, Frankfurt am Main 2015, 461 Seiten, 25,70 Euro.
Nikolaus Halmer, geboren 1958, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.
Hinweis:
Am Donnerstag, 12. Mai, bringt die Sendung"Dimensionen - die Welt der Wissenschaft"(Ö1, 19.05 Uhr) den Beitrag von Nikolaus Halmer: "Ruhelos und rastlos sollst Du sein!" Eine Ideengeschichte der Unruhe.