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"Prinzip Hoffnung" ist die Devise

Von Michael Schmölzer und Tamas Denes

Europaarchiv

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Wollen wir "Mitglied sein oder frei? - Nein zur EU". Große Worte auf einem eher unscheinbaren Aufkleber, der eine gläserne Flügeltür am Budapester Hauptbahnhof Kelety ziert. Der pathetische Slogan ist an ein Zitat des ungarischen Nationaldichters Sandor Petöfi angelehnt, dieser verwendete statt "Mitglied" allerdings "Gefangene". Die herrschende Grundstimmung der Ungarn, trifft das entstellte Zitat auch nicht. Denn die meisten Magyaren wollen sehr wohl in die Union.

Am 12. April soll darüber abgestimmt werden. Doch obwohl der EU überwiegend Sympathien entgegen gebracht werden, findet sich kaum ein Budapester, der vorbehaltlos in Jubel ausbrechen würde: "Mein Geschäft geht sowieso den Bach runter, da ändert ein EU-Beitritt gar nichts", meint etwa Szilvia Kosztolny, Inhaberin einer kleinen Boutique. Außerdem wisse sie eigentlich nicht, was da auf sie zukomme und das mache sie nervös. Dennoch wird sie "zu 99 Prozent" mit "Ja" stimmen.

Joszef Stajer kann man dagegen in Sachen EU nichts vormachen: "Die Reichen werden noch reicher, die einfachen Leute ärmer." So wird das laufen, da ist sich der Kino-Billeteur absolut sicher. Wie er dann am 12. April stimmen wird? Stajer ist bass erstaunt über die merkwürdige Frage: "Natürlich mit Ja". Warum, liege auf der Hand: "Die EU wird den allgemeinen Wohlstand auf alle Fälle heben, wenn nicht jetzt, dann eben im Laufe der Zeit."

Bernadetta arbeitet nur wenige Meter daneben und verkauft inmitten der vorbeihastenden Menge Kebab-Sandwiches. Sie ist so kurz vor Dienstschluss schon ganz geschlaucht, vielleicht ist ihr deshalb die EU "völlig egal". Denn: Das alles betreffe sie nicht, Vorteile erwartet sie genau so wenig wie Nachteile. Zur Abstimmung am 12. geht sie nicht, und falls zufällig doch, "dann stimme ich mit Nein".

Auf eine im ungarischen Parlament vertretene Partei kann sich Bernadetta allerdings nicht berufen. Die Abgeordneten sind hierzulande ausnahmslos - freilich mit oft nicht unwesentlichen Abstufungen - für einen Beitritt Ungarns. Einzige Ausnahme ist die rechtsextreme ungarische "Wahrheit-und-Leben-Partei" (MIÈP), eine politische Kraft, die allerdings nicht ins Parlament gewählt wurde. Unter dem Namen "Ungarische Nationale Front" (MNF) haben Vertreter dieser Bewegung erst jüngst eine neue Organisation gegründet. Es handelt sich um Abtrünnige, die sich gegen MIEP-Chef Istvan Csurka gestellt und deswegen aus der Partei ausgeschlossen worden waren. Laut Ernö Rozgonyi, dem amtierenden Vorsitzenden der MNF, bestünde das oberste Ziel auch dieser Bewegung darin, die Ungarn "im Interesse der Einheit der ungarischen Nation zu mobilisieren". MNF würde nach "Schaffung der Einheit", nach "nationalem Zusammenschluss" streben. Ungarn müsse "Nein zum Beitritt" sagen, da es in die "EU gezwungen" würde. Es gebe zu viele ungeklärte Fragen, wie die Frage des Besitzes ungarischen Bodens, so die Argumentation der Splittergruppe.

Vörös Karoly wird die MNF sobald nicht zu ihren Gefolgsleuten zählen können. "Die EU ist eine gute Sache", ist sich der Straßenkehrer sicher. Von Europa hat er im Zuge eines bewegten Lebens schon viel gesehen: Einige Zeit hat er in der ehemaligen DDR verbracht, dann, nach der Wende, ist er als Schweißer in den Westen gegangen und hat eine Deutsche geheiratet. Damals habe er "gut gelebt". Dann kamen allerdings einige Schicksalschläge, die Karoly zurück nach Ungarn und in einen unbefriedigenden Job drängten: Doch Aufgeben ist seine Sache nicht: Sollte seine Heimat zur EU kommen, will er ein zweites mal sein Glück im Westen versuchen. Dann könnte ihm sein Status als EU-Bürger viele Scherereinen mit den Behörden ersparen, kalkuliert Karoly.

Mitten im Zentrum von Budapest befindet sich das Weinlokal "Grinzingi", das selbst unter der Woche gut besucht ist. Hier hegt man für echt wienerische Heurigenkultur mehr Bewunderung als für Brüsseler Bürokratie. Fünf ältere Herren sitzen an einem der wuchtigen Holztische und übertreffen sich gegenseitig dabei, den kriegerischen US-Präsidenten mit Schmähungen zu überhäufen. Aber bei der Frage, was die EU an Vorteilen bringt, blocken die fünf ab: "Wissen wir nicht, die Jungen wissen es nicht, Sie wissen es auch nicht. Stimmt's?"

Ernö Papp, der alleine in einer Ecke sitzt, weiß es aber ganz genau: "Die Idee ist gut, die Bedingungen sind für Ungarn schlecht." Ganz schlecht ist zum Beispiel, dass ihm Brüssel vorschreiben will, was er zu Essen hat und was nicht. Denn eines ist für Papp klar: Wenn einmal die EU das Sagen hat, dann heißt es Abschied nehmen von seinem geliebten Schweinsklauen-Pörkölt, einem ungarischen Nationalgericht. Und dann werden auch keine halben Brotlaibe verkauft werden dürfen, was ihn bei seinem geringen Verbrauch hart trifft.

Aber nicht nur die "einfachen Leute", auch Ungarns Prominente haben sich bereits so ihre Gedanken zur EU gemacht. Zumindest Tibor Nyilasi, in Österreich vielen als "Austria-Stürmerstar" und Torschützenkönig des Jahres 1984 noch gut in Erinnerung, hegt in Sachen EU-Beitritt Ungarns "große Hoffnungen". Seine Heimat dürfe "auf keinen Fall allein bleiben". Allerdings habe er im Detail den Durchblick nicht, die EU sei eine "schwierige Sache". Und Rita, Charts-stürmende Sängerin von "Zanzibar" hat angesichts des Kommenden "schon ein bisschen Angst": Ihr Credo lautet nichts desto trotz: "Ich glaube daran."

Die EU-Informationskampagne der ungarischen Regierung wurde erst verhältnismäßig spät gestartet. "Eine zu lange Kampagne langweilt die Leute", lautete die offizielle Begründung. Ein weiterer Grund könnte sein, dass die Magyaren schon seit Jahren auch in Brüsseler Kreisen als die sichersten EU-Befürworter gehandelt werden. Die einschlägigen Umfragen scheinen das zu bestätigen. Nach einer kurzfristigen Abnahme der EU-Begeisterung der Ungarn im Jänner dieses Jahres hat sich der Trend wieder umgekehrt. Im Februar wollten 59 Prozent nach Europa, 21 Prozent lehnten einen solchen Schritt ab. "Wozu angesichts einer so deutlichen Mehrheit noch kostspielige Werbung?" könnten sich die Verantwortlichen gedacht haben.

Erst Ende Jänner 2003 wurde von der ungarischen Regierung entschieden, dass die EU-Infokampagne von einem überparteilichen Gremium geführt werden soll. Eine Kommunikationsstiftung kümmert sich seither um die Vermarktung der europäischen Idee. Ab Mitte Februar wurde auch eine Info-Hotline, die nur während der ersten Woche nach Inbetriebnahme gratis zu benutzen war, installiert.

Die freundliche Dame am EU-Telefon (die allerdings erst nach einer halben Stunde vergeblichen Bemühens zu erreichen war), kennt die Sorgen der Ungarn wie kein anderer: Die meisten Anrufer seien ältere Menschen, erzählt sie, die um ihre Pension fürchten. Dicht gefolgt von vielen Landwirten, die sich nach EU-Subventionen erkundigen. "Außerdem rufen viele Studenten an, die sich wegen der Anrechenbarkeit ihrer Diplome im Ausland erkundigen."

Auch "Scherzanrufe" sind keine Seltenheit. "Ist Altgriechisch auch eine EU-Sprache?" wollte unlängst jemand wissen.

Die Serie wird im Mai mit Reportagen aus den baltischen Ländern fortgesetzt.