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Problem der ÖVP "eine Zeitbombe"

Von Patrick Krammer

Politik
Ein genauerer Blick auf die Wählerströme.
© WZ-Illustration: mozi

Die Wählerstromanalyse zeigt mögliche Erklärungen des Wahlergebnisses auf. Sora-Experte Hofinger erklärt sie.


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Die Landtagswahl in Niederösterreich ist geschlagen. FPÖ und Grüne sind die großen Gewinner. Die Freiheitlichen haben ein Plus von knapp 10 Prozent, die Grünen das notwendige vierte Mandat, um wieder Klubstatus zu erlangen. Volkspartei und Sozialdemokratie haben unterdessen herbe Verluste einfahren müssen. Hinweise auf die Gründe gibt die Wählerstromanalyse vom Sozialforschungsinstitut Sora.

Wählerstromanalysen beruhen auf Berechnungen und sind Schätzungen, das sagt auch der Mitverfasser Christoph Hofinger von Sora im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Es gebe in jeder Berechnung eine "statistische Unsicherheit", die Analysen sind daher in erster Linie dazu geeignet, größere Trends abzulesen.

Höhere Wahlbeteiligung half ÖVP wenig

Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner setzte in ihrem Wahlkampf vor allem auf Mobilisierung und malte einen rot-blauen Teufel an die Wand. Das könnte ihr auch gelungen sein: Die Wahlbeteiligung stieg vom historisch schlechtesten Wert von 66,56 Prozent (2018) auf 71,52 Prozent (2023). In absoluten Zahlen verlor Niederösterreich knapp 100.000 Wahlberechtigte durch neue Regeln für Personen mit Zweitwohnsitzen, die Zahl der abgegebenen Stimmen sank dafür nur um knapp 1.000 Stimmen. Auch die Zahl der Nichtwähler ging 2023 im Vergleich zu 2018 um rund 84.000 Stimmen zurück.

Die ÖVP "hat zwar verhindert, dass ein großer Absprung zu den Nichtwählern stattgefunden hat", so Hofinger, aber problematisch sei, "dass sie so einen starken Übergang von über 70.000 Stimmen zu den Freiheitlichen hat." Der Sora-Experte sieht einen Grund dafür im Agenda Setting der ÖVP, also der Themenfokussierung auf Migration und Asyl. Themen, mit denen man unter ÖVP-Obmann Sebastian Kurz 2017 und 2019 noch sehr gut gefahren ist. Diese Mobilisierung sei aus Sicht der Volkspartei "problematisch" und es wäre für die Volkspartei "fast noch besser gewesen, wenn die nicht wählen gegangen wären", so Hofinger.

FPÖ profitierte von ÖVP-Themensetzung

Schon rund um die Tirol-Wahl rechneten Politikberater Thomas Hofer und Politikwissenschafter Fritz Plasser in Gesprächen mit der "Wiener Zeitung" damit, dass die ÖVP mit den Themen Asyl und Migration versuchen wird, das eigene Profil zu schärfen, selbst wenn es "kein Bringerthema" für die Volkspartei sein werde. Das ist dann auch passiert: Im Bund machten Kanzler Nehammer und Innenminister Gerhard Karner (beide aus der niederösterreichischen ÖVP) die Unterbringung von Asylwerbern und Schengen zum Thema.

Was der niederösterreichischen ÖVP sicher nicht geholfen haben dürfte, war das "Signal der Überforderung der Parteispitze": Karner schaffte es mehrere Wochen lang nicht, Asylwerber von der Bundes- in die Landesbetreuung zu bekommen, woraufhin man Menschen Ende Oktober in Zelten unterbringen musste. Gemeinsam mit Bundeskanzler Nehammer verkündete Karner wenig später, dass das Schengensystem gescheitert sei. Man habe vor allem Überforderung kommuniziert, was zum Gegenteil des erwünschten Effektes geführt habe. Anstatt sich nach rechts abzusichern, trieb man Wähler zur FPÖ, da man signalisierte, die Volkspartei könne "das Problem nicht in den Griff bekommen", so Hofinger, der von "korrelationsstatistischen Analysen" spricht, die sich aus Sora-Erhebungen ableiten ließen. Und das wäre der "empirische Beleg", dass die Abwanderung der ÖVP-Wähler zur FPÖ mit Asyl und Migration zusammenhängen. "Die Strategie, sich mit Migrationsthemen auf der rechten Flanke abzusichern, ist nicht aufgegangen", sagt Hofinger.

Landtagswahlen sind Stimmungswahlen

Erklärungsversuche von ÖVP-Politikern wie Bundeskanzler Karl Nehammer und Spitzenkandidatin Johanna Mikl-Leitner, wonach sich Themen auf Bundesebene auf die Landtagswahl ausgewirkt haben, stimmt Hofinger nur teilweise zu. Untersuchungen des Politikwissenschafters Laurenz Ennser-Jedenastik von der Universität Wien hätten zwar ergeben, dass "Bewegungen bei Landtagswahlen aus einem Bundestrend erklärbar" seien, man Landtagswahlergebnisse aber nicht ausschließlich damit erklären könne. Auch der Meinungsforscher Peter Hajek sprach im "Profil"-Podcast von Sonntagabend von "denkbar ungünstigen Rahmenbedingungen für die ÖVP". Er sieht zu einem gewissen Teil auch eine Unzufriedenheit mit dem "türkisen System", von dem sich die niederösterreichische Volkspartei nicht abkapseln konnte.

Landtagswahlen seien zu einem "nicht unwesentlichen Teil Stimmungswahlen", sagt auch Hofinger. Die generelle Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation, entstanden durch eine hohe Inflation, einem russischen Angriffskrieg in der Ukraine und noch nicht vergessenen Pandemie, helfe der FPÖ. Vor allem dann, wenn die ÖVP ein blaues Kernthema in den Fokus rückt.

"Wenn der Frust in der Bevölkerung ganz groß ist, dann wählt man auch eine Partei, von der man vielleicht gar nicht so überzeugt ist", betonte Meinungsforscher Peter Hajek. Die Einordnung als Proteststimme "trifft es schon sehr gut", schätzt auch Hofinger die Lage ein. Er bezieht sich dabei auf Erhebungen, die zeigen, dass vor allem FPÖ-Wähler kaum Vertrauen in die niederösterreichische Politik haben. Die Wahlentscheidung war demnach sehr emotional, was ein normaler Effekt sei, so Hofinger.

Neue Zweitwohnsitzregelung schadete ÖVP und Grünen

Auch die Gesetzesänderung im Frühjahr 2022, die zum Ausschluss von 97.518 Wählern geführt hat, die lediglich einen Zweitwohnsitz in Niederösterreich hatten, hatte negative Auswirkungen vor allem für die Regierungsparteien im Bund: Die ÖVP verlor rund 36.000 Wähler, die nicht mehr wahlberechtigt waren - rund 8 Prozent der ÖVP-Gesamtwähler von 2018. Ähnlich die Grünen: Sie verloren 4.000 ihrer 59.000 Wähler aus 2018 aufgrund der Neuregelung.

Für Hofinger von Sora ist der Effekt keine Überraschung: "Personen mit Zweitwohnsitzen verfügen über mehr Ressourcen, mehr Bildung, mehr Einkommen und bei diesen Gruppen sind ÖVP und Grüne stärker." Der typische Grün-Wähler ist laut Hofinger um die 55 Jahre alt und damit in der Lebensphase, in der man einen Zweitwohnsitz hat.

SPÖ heftet sich Bruch der Absoluten auf die Fahne

Der Spitzenkandidat der SPÖ, Franz Schnabl, gab als oberstes Wahlziel nicht etwa ein gutes Abschneiden der SPÖ vor, sondern den Bruch der absoluten ÖVP-Mehrheit im Landtag und der Landesregierung.

Einige SPÖ-Funktionäre versuchten im Anschluss an die Wahl, sich das Brechen der ÖVP-Absoluten als Erfolg auf die Fahnen zu heften. Aus der Wählerstromanalyse ist so etwas jedoch nicht ablesbar. Die SPÖ konnte der ÖVP kaum Wähler abluchsen - Sora rechnet von rund 9.000 -, verlor dafür knapp 30.000 Wähler an die FPÖ. Und das, obwohl das Sozialthema Teuerung bei den drei großen Parteien im Mittelpunkt stand.

Jüngere Wähler sind seltener Stammwähler

Überrascht hat die Forscher von Sora die harte Kante bei Wählern um die 60 Jahre. Ist die ÖVP in der Altersgruppe über 60 mit 56 Prozent noch die klar stärkste Partei, liegt sie in den Altersgruppen darunter gleichauf mit der FPÖ um Werte von rund 30 Prozent. "Die ÖVP hat ein Problem, das ist eine Zeitbombe", sagt Hofinger. Echte Stammwähler, so der Experte, gäbe es vor allem in der Altersgruppe über 75 Jahren, darunter wären die meisten Wechselwähler. Die ÖVP müsse sich in den kommenden Jahren auf mehr Wettbewerb und mögliche Machtwechsel in schwarzen Hochburgen wie Tirol und Niederösterreich einstellen.