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Promenade der Europäer in Nizza

Von Heike Hausensteiner

Europaarchiv

Nizza kann wieder aufatmen. Der 64. EU-Rat - der bisher längste in der Geschichte der Union - ist nach fünf Tagen und schwierigen Verhandlungen zu Ende gegangen. Der Gipfel drohte noch am Sonntagabend zu scheitern. Um 4.15 Uhr in der Nacht auf Montag war es dann so weit: Aufatmen nicht nur bei den hunderten Delegationsmitgliedern, sondern vor allem bei den mehr als 3.000 wartenden Medienvertretern.


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Gespenstische Atmosphäre zwei Wochen vor Weihnachten in Nizza bei frühlingshaften 16 Grad Celsius: Delegationen von Politikern und Diplomaten sowie Abordnungen von Kameraleuten und Journalisten haben die 350.000 Einwohnerstadt an der Còte d´Azur in Beschlag genommen. Die Innenstadt ist praktisch lahmgelegt und wie ausgestorben, Straßen sind gesperrt, Geschäfte "wegen EU-Gipfel" geschlossen.

Kleine legten sich quer

Hatte bis Samstag noch eine optimistische Stimmung vorgeherrscht, stand der Gipfel am Sonntag zu vorgerückter Geisterstunde an der Kippe: Gegen 23 Uhr wurden die Verhandlungen unterbrochen. Sechs kleine Länder, darunter Österreich, hatte den französischen Vorschlag zur Stimmgewichtung im EU-Rat abgelehnt und die Anwendung der doppelten Mehrheit verlangt. Belgien pochte als einer der Gründerstaat der EU darauf, im EU-Ministerrat wie bisher mit gleich vielen Stimmen wie die Niederlande vertreten zu sein. Der letzte Vorschlag Frankreichs hätte Belgien nämlich eine Stimme weniger gegeben. Präsident Chirac habe vorgeschlagen, diese Entscheidung auf die schwedische Präsidentschaft (ab Jänner 2001) zu vertagen. Später hieß es, Chirac habe über eine Verschiebung lediglich "sinniert".

Gerüchte

Dann verlautete, Chirac sei gesundheitlich derart angeschlagen, dass ein baldiger Abschluss oder aber ein Aussetzen der Gespräche zu erwarten sei. Vielleicht sollte nach Weihnachten noch Ende des Monats weiter verhandelt werden? Die bilateralen Gespräche wurden wieder aufgenommen. Finnlands Präsidentin Tarja Halonen hatte inzwischen den Verhandlungsort in der "Acropolis" verlassen und die Geschicke Ministerpräsident Paavo Lipponen und Außenminister Erkki Tuomioja überlassen. Gegen zwei Uhr morgens erneute Unterbrechung: Diesmal legte sich nur mehr Belgien quer, hieß es. An jeden Funken von Information hieß es sich festzuhalten. Zwischenergebnisse sickerten kaum durch, da auch die Delegationsteilnehmer und Ministersprecher bei den Gesprächen nicht zugelassen waren. Die spärliche Informationspolitik sorgte daher unter den Medienbeobachtern für einigen Unmut. "Verhandlungstaktik", so rechtfertigte man sich aber auf höchster politischer Ebene.

Spärliche Informationspolitik als Verhandlungstaktik

Spezielle Länderwünsche - vor allem hinsichtlich zukünftiger Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit und dafür Abschaffung des Vetorechts - erleichterten nicht gerade das Feilschen um ein Gesamtpaket.

Das seien aber "keine Marotten", betonte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. So habe er darauf bestanden - und sich damit auch durchgesetzt, dass kleine Länder wie Österreich einen Kommissar behalten. Außerdem bleibt vorerst das Einstimmigkeitsprinzip beim Asylrecht und beim Wasserrecht. Auch Deutschland verteidigte sein Vetorecht beim Thema Asyl und legte im Einklang mit Österreich die zusätzliche Bedingung fest, dass vor einem Übergang zu Mehrheitsentscheidungen in dieser Frage einstimmig ein europäisches Asyl- und Einwanderungsrecht geschaffen werden müsse. Für Großbritannien bleibt das Vetorecht in wichtigen Sozial- und Steuerfragen bestehen. Die bereits vor dem Wochenende erzielte Einigung über die europäische Verteidigungspolitik wurde auf Drängen des Vereinten Königreiches verwässert, während Frankreich eine Emanzipation von der USA-dominierten NATO verlangte. Für Frankreich rettete Staatschef Jacques Chirac den Schutz für die heimische Filmindustrie in Handelsfragen. Spanien als einer der größten Empfänger von Strukturhilfen verteidigte sein Vetorecht in diesem Bereich bis zum Jahr 2007.

Schlag 4 Uhr 15 war es dann endlich so weit: Die EU-15 sind sich einig, der Gipfel ist zu Ende. Die Staats- und Regierungschefs eilen mit dem jeweiligen Außenminister zur abschließenden Pressekonferenz - und anschließend im von der Polizei-Elitetruppe angeführten Konvoi auf den Flughafen.

Der Weihnachtstrubel kann zurückkehren

Die Barrikaden gegen mögliche Demonstrationen sind längst abgebaut. Die aus Angst vor Anschlägen entfernten Mistkübel an der Promenade des Anglais können wieder montiert werden. Und die Place Masséna, der größte Platz in der Stadt, kann nun wieder von allen Fahrzeugen und Passanten überquert werden. Auf der Avenue Médecin, die in die Place Masséna mündet, leuchtet in den Morgenstunden noch die bunte Weihnachtsdekoration. Die Geschäfte können sich endlich wieder über ordentliche Umsätze freuen.