Russische Blogger machen sich über Polit-Elite lustig, Wehrfähige verlassen das Land, Kreml-Patrioten raufen sich die Haare.
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Wer dieser Tage in Russland auf die Straße geht, um gegen die Teilmobilmachung von Reservisten zu protestieren, braucht Mut. Nicht nur, dass Polizeieinheiten ausrücken, auf die Demonstranten einprügeln und diese abführen. Es folgen Gehirnerschütterung, Arrest und Geldstrafen. Im schlechtesten Fall riskiert man jahrelange Haft oder erhält umgehend seinen Einberufungsbefehl an die Front - der Disziplinierungsversuch eines Regimes, dem in der Ukraine eine Niederlage größeren Ausmaßes ins Haus steht.
Noch ist das System von Präsident Wladimir Putin nicht unmittelbar vom Einsturz bedroht. Dafür hat das Regime im Moskau zu lange eine Gleichschaltungspolitik betrieben und oppositionelle Bewegungen drangsaliert und ausgeschaltet. Aber es gärt überall, denn die militärischen Misserfolge rufen jetzt auch die Nationalisten, die den Einmarsch in der Ukraine und den Krieg begrüßt haben, auf den Plan. Kritik am "stümperhaften" Vorgehen der russischen Armee, die ganz offenbar stehend K.o. ist, wird deutlich vernehmbar auch für jene Durchschnittsrussen, die sich nicht über oppositionelle Kanäle informieren. Nur noch eine Minderheit glaubt noch der offiziellen Propaganda, wonach der Rückzug der russischen Armee eine "strategische Umgruppierung" sei.
"Verrat" oder "Unfähigkeit"?
Der konservative Kommentator Jegor Cholmogorow etwa beklagt, dass die russische Armee entweder einem "Verrat" zu Opfer gefallen oder einfach "nicht kampftauglich" sei. "Es ist absolut unmöglich, die Ukraine mit den Mitteln zu besiegen, mit denen Russland kämpft, mit seinen kolonialen Kriegsmethoden, Vertragssoldaten, Söldnern und ohne Mobilmachung", schimpfte der ehemalige Abgeordnete Boris Nadeschdin in einer Fernsehdebatte. Viele Hardliner fordern einen Austausch der militärischen Führung und eine härtere Gangart gegenüber der Ukraine.
Mit der Teilmobilmachung geht Putin jetzt einen Schritt in diese Richtung. Westliche Militärexperten bezweifeln allerdings, dass sich das Blatt dadurch wenden wird. Vielmehr wird erwartet, dass das allgemeine Chaos noch zunimmt. Sollten die militärischen Erfolge trotz Teilmobilmachung ausbleiben, wird es für Putin richtig ungemütlich.
Die Probleme der russischen Streitkräfte liegen bekanntlich im Bereich der Logistik. Dazu kommt, dass ein erheblicher Teil an Gerät, etwa Panzern, verloren gegangen ist. Die Armee ist gezwungen, T-62-Panzer auszumotten - eine Waffe, die schon 1962 in Produktion ging, aber den Vorteil hat, dass sie auch ohne hochkomplexe Chips, die wegen der Sanktionen Mangelware sind, funktionsfähig ist. Dass zu diesem antiken Modell gegriffen wird, zeigt aber vor allem, wie hoch die russischen Verluste sind. Denn der T-62 ist Militärexperten zufolge auf dem Schlachtfeld hoffnungslos unterlegen.
Für den Kreml ist es jedenfalls höchst unangenehm, dass nun treue Patrioten Kritik üben, wo doch eine Diskreditierung der Armee mit hohen Strafen verbunden ist. Die Behörden tun sich zunehmend schwer, gegen die zunächst begeisterten, nun aber erbitterten Kriegsbefürworter in der gebotenen Schärfe vorzugehen. Was für den Kreml schon deshalb ein Problem ist, weil Blogger nicht selten in Russland ein Millionenpublikum erreichen.
Ein Jux mit Peskows Sohn
Der Kriegsgegner, Youtuber und ehemalige Oppositionspolitiker Maxim Katz etwa erreicht mit seinen Videos laut eigenen Angaben drei Millionen Russen. Der in Israel lebende Aktivist war jetzt zu Besuch bei den Medientagen in Wien und hat die Lage in Russland beschrieben: Man fühle sich als Kriegsgegner derzeit "wie ein Drogendealer", der ständig auf der Hut sein müsse. Katz versucht, der offiziellen Propaganda entgegenzuwirken - und er traut Putin mittlerweile vieles zu, denn der russische Präsident sei schlichtweg "verrückt".
Andere Youtuber verhalten sich zum Gaudium ihrer zahlreichen Fangemeinde ähnlich unbotmäßig. So meldete sich Dmitri Nisowzew, der zum Umfeld von Kreml-Kritiker Alexej Nawalny gezählt wird, telefonisch beim Sohn von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, Nikolia, um diesen von seiner Einberufung zu unterrichten. Der Gefoppte verwies sogleich auf seine prominente Familienzugehörigkeit und meinte, es könne sich hier nur um einen "Fehler" handeln. Er akzeptiere seine Einberufung nur dann, wenn diese von Präsident Putin persönlich ausgesprochen werde.
Vor diesem Hintergrund wirkt der Aufruf des russischen Parlamentschefs Wjatscheslaw Wolodin, die Abgeordneten mögen sich am Krieg beteiligen, nicht mehr ganz so kühn. Davor waren Gerüchte aufgekommen, die Duma-Abgeordneten könnten der Ansicht sein, die Teilmobilmachung beträfe sie nicht. Ein Abgeordneter hatte vorsorglich angegeben, er werde im Land gebraucht.
Andere Kriegsunwillige versuchen gar, sich ins Ausland abzusetzen, wie finnische Grenzschützer vermelden. Demnach habe der Grenzverkehr zuletzt ganz signifikant zugenommen, einen über Soziale Medien kolportieren 35-Kilometer-Stau habe es aber nicht gegeben. Finnland grenzt auf 1.340 Kilometern Länge an Russland. An der Grenze zu Georgien wird ebenfalls ein verstärktes Verkehrsaufkommen verzeichnet.
Was tun mit Deserteuren?
Flüge in Länder wie Armenien, Türkei, Aserbaidschan oder Serbien sind für die nächsten Tage komplett ausgebucht. In den Sozialen Medien ist die Rede davon, dass Tickets teilweise zu Fantasiepreisen von mehreren tausend Euro gehandelt werden. Informationen im Internet, wie man jetzt am besten aus Russland herauskommt, werden von den Usern gestürmt. Denn an sich muss jeder Wehrpflichtige ab jetzt an seinem Wohnort bleiben; wer verreist, muss das der Militärbehörde melden. Die EU reagiert und beschäftigt sich mit der Frage, wie mit fliehenden Russen umzugehen sei. "Das ist eine noch nie da gewesene Situation, wir untersuchen sie unter dem Aspekt der Sicherheit", heißt es aus Brüssel.
Zuletzt hat der Kreml Berichte dementiert, wonach bei der Teilmobilmachung die Einberufung von bis zu einer Million Reservisten möglich sei. Der Kreml sprach von einer Lüge, wie russische Agenturen meldeten. Das Internetportal der in Russland inzwischen eingestellten Zeitung "Nowaja Gaseta" schrieb dagegen, Präsident Wladimir Putin gebe dem Verteidigungsministerium freie Hand zur Mobilisierung von bis zu einer Million Mann.