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Hundertausende auf der Straße. | Streiks mit wenig Erfolgsaussichten. | Paris. Frankreich gewöhnt sich an den Ausstand: Zum zweiten Mal in nur gut zwei Wochen protestierten gestern Hunderttausende Menschen im ganzen Land gegen die geplante Rentenreform, die eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters von 60 auf 62 Jahre vorsieht. Wer die volle Rente beziehen will, muss in Zukunft sogar bis 67 statt bisher 65 arbeiten. | Frankreich steht still
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Nachdem die Nationalversammlung die Änderungen bereits beschlossen hat, wird sich ab Anfang Oktober der Senat als zweite Parlamentskammer damit befassen. Ob der Widerstand der Straße noch etwas bewirken kann, ist unklar: Gibt die Regierung zumindest in Teilen nach oder kühlt sich der "heiße Herbst", den die Gewerkschaften beschwören, schon wieder ab?
Schon im Vorfeld wussten die Organisatoren, dass viel davon abhängt, ob sie zumindest annähernd so viele Teilnehmer würden mobilisieren können wie beim ersten Streiktag am 7. September. Damals gingen landesweit zwischen 1,1 Millionen (laut Innenministerium) und 2,7 Millionen (laut Gewerkschaften) auf die Straße. Diesmal waren es etwas weniger. In jedem Fall hat Gewerkschaftsführer Bernard Thibault angekündigt, "bis zum Ende" Druck auf die Regierung auszuüben. Möglicherweise könnte es Anfang Oktober zu zwei weiteren nationalen Streiktagen kommen.
Besonders betroffen waren gestern Ämter, Schulen und Behörden, der öffentliche Nah- und der Zugverkehr. Knapp die Hälfte aller Flüge von und nach Paris fiel aus.
Umfragen machen eine widersprüchliche Haltung der Franzosen aus: Knapp zwei Drittel stehen hinter der Streikbewegung, zugleich glaubt eine Mehrheit, dass ein späterer Eintritt in den Ruhestand alternativlos ist. Das Milliardenloch im System wächst jährlich an, und ohnehin haben die Franzosen mit 58,7 Jahren das europaweit niedrigste durchschnittliche Renteneintrittsalter (knapp vor Österreich mit 58,9).
Sarkozy unnachgiebig
Die Reform gilt als das wichtigste Projekt in der Amtszeit von Präsident Nicolas Sarkozy. Zwar sind die Maßnahmen unpopulär, doch er kann sich als verantwortungsbewusster Reformer profilieren. Auch Arbeitsminister Eric Woerth zeigt entschlossene Durchsetzungskraft, obwohl er durch die Verwicklungen in den Parteispenden- und Steuerskandal um die Milliardärin Liliane Bettencourt persönlich angeschlagen ist. Vom Herz der Reform, der Verschiebung der Altersgrenzen, gehe er nicht ab, bekräftigte er. "Sie sind wesentlich für die Ausgeglichenheit des Systems." Trotzdem seien einige partielle Erleichterungen denkbar, die bestimmte Branchen, Menschen mit Arbeitsunfällen oder Behinderte betreffen können.
Die Sozialpartner legen das Augenmerk vor allem auf Erleichterungen für die "Vergessenen der Rentenreform": Frauen, die wegen Mutterschaftsurlaub berufliche Pausen eingelegt haben und deshalb nicht die volle Rente erhalten. So dreht sich die Diskussion immer weniger um die symbolische Rente mit 60, die die Sozialisten unter François Mitterrand eingeführt haben.