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Israels Sozialdemokraten auf der Suche nach neuem Vorsitzenden. | Spaltung als Tiefpunkt in der | Parteigeschichte.
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Tel Aviv. "Die Zelte dienen keinem Zweck mehr", sagt Yuval Badolach, ein Vertreter der Nationalen Studentengewerkschaft, "sie waren nur ein Symbol." Einen langen Sommer haben sie ausgehalten, einen Sommer, der die Gemüter der Israelis so erhitzt hat wie noch nie. Aber nach sieben Wochen des Protestes gegen hohe Lebenshaltungskosten und ein schlechtes Bildungssystem, die als abschließenden Höhepunkt Demonstrationen von rund 400.000 Menschen im ganzen Land sahen, beschlossen manche, dass es genug sein sollte.
Andere hingegen wollten weiter ausharren, vor allem jene, für die die Zeltplätze im ganzen Land nicht nur ein Zeichen des Protestes waren, sondern die tatsächlich hier ihre Obdachlosigkeit vorübergehend beenden konnten. Sie bauten ihre Behausungen nicht freiwillig ab, sondern wichen der Behördenmacht. Jene Teile der Protestbewegung, die in den Zelten bleiben wollten, bis die wichtigsten Forderungen erfüllt wären, protestierten gegen die städtischen Räumaktionen und wiesen darauf hin, dass die Studentenunion nur einen kleinen Teil des Protestspektrums präsentiere.
"Die Leute müssen zurück zur Arbeit und in die Schule", sagt hingegen Badolach, "und die Nachbarn auf dem Rothschild Boulevard brauchen ihre Ruhe." Hier, auf dem grünen Mittelstreifen der elegantesten und teuersten Straße in Tel Aviv, errichtete eine Studentin am 14. Juli aus Zorn über die hohen Wohnungsmieten ein Zelt, und niemand, am wenigsten die Rechts-Regierung von Benjamin Netanyahu, rechnete damals damit, dass daraus ein Massenprotest entstehen würde, wie ihn Israel noch nicht gesehen hat.
Kein Kurswechsel
Eine "Grassroots"-Bewegung nennt man das heutzutage, eine Bekundung des Volkswillens von unten, von den Graswurzeln her. Erst mit Verspätung erkannte Netanyahu, wie weit der Volkszorn reichte und dass er weit über das klassische linke Lager hinausging. Schließlich richtete er eine Kommission ein, verkündete aber gleichzeitig, an seinem neoliberalen Kurs grundsätzlich festhalten und keinesfalls den Wohlfahrtsstaat einführen zu wollen.
Aber auch die anderen Parteien waren von der Basisbewegung überrascht. Die Kadima, stärkste Partei der Opposition, sprang mit Verzögerung den Protestierenden bei, und von der Avoda, der Labor Party oder Arbeitspartei, die über Jahrzehnte die Geschicke des Staates mitbestimmt hatte, war gleichfalls wenig zu hören. Dabei wäre sie, die mit der europäischen Sozialdemokratie vergleichbar ist, am ehesten dazu berufen, sich sozialer Themen anzunehmen.
Aber die Arbeitspartei ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Im Jänner verlor sie ihren Vorsitzenden Ehud Barak, weil dieser die Partei verließ und mit weiteren 4 von 13 Labor-Abgeordneten eine eigene Partei gründete. Barak wollte Verteidigungsminister in der Regierung bleiben, die er zusammen mit Netanyahus Likud, der ultraorthodoxen Shas-Partei und der rechtsnationalen Yisrael Beiteinu (Unser Haus Israel) von Außenminister Avigdor Lieberman bildet.
Steter Niedergang
Diese Spaltung war ein Tiefpunkt in der Geschichte der Arbeitspartei, die sich ohnehin in ständigem Niedergang befand. Immerhin hatte sie beziehungsweise ihre Vorgängerpartei Mapai die ersten Jahrzehnte nach der Staatsgründung 1948 bestimmt, mit David Ben Gurion, Golda Meir, Yitzhak Rabin und Shimon Peres Premierminister gestellt. Sogar Peres, heute Staatspräsident, verließ aber die Arbeitspartei Richtung Kadima, die sich ihrerseits unter Ariel Sharon vom Likud abgespalten hatte. Bei den letzten Wahlen 2009 verlor die Avoda 6 Sitze in der Knesset, nach Baraks Abspaltung verfügt sie nur noch über 8 von insgesamt 120 Mandataren und stellt keinen Minister mehr. Und Vorsitzenden hat sie auch noch immer keinen.
Das soll sich dieser Tage ändern. Die Mitglieder sind zu einer Urabstimmung über ihre Führung aufgerufen, aber schon das Ringen der Kandidaten um mögliche Unterstützer zeigte im Vorfeld die Zerrissenheit der Partei. Erbittert wurde darum gestritten, wer zu den Mitgliedern zu zählen sei. Mehr als 8000 Menschen, die mitwählen wollten, wurden nicht akzeptiert, weil ihre Mitgliedsbeiträge nicht bezahlt waren. Weitere Tausende wurden ausgeschlossen, weil sie Mitglieder anderer Parteien waren oder weil das Innenministerium nicht bestätigen konnte, dass sie real existierten.
Am Montag stellten sich nun die Kandidaten zur Wahl. Das Rennen machten Shelley Yacimovich und Amir Peretz. Sie verwiesen die übrigen Bewerber, Isaac Herzog, Amram Mitzna und den Risikokapitalfinanzierer Erel Margalit, af die Plätze. Yacimovich erhielt 32 Prozent der Stimmen, Peretz 31 Prozent. Kommende Woche müssen sie sich einer Stichwahl stellen.
Peretz hatte den Posten als Parteivorsitzender bereits 2005 bis 2007 inne und war auch schon Verteidigungsminister. Die ehemalige Journalistin Yacimovich war bisher nur in einigen Parlamentsausschüssen vertreten, und die mangelnde politische Erfahrung wurde ihr von ihren Konkurrenten wiederholt zum Vorwurf gemacht. Sie hat aber von den Sozialprotesten profitiert, gilt sie doch als Spezialistin für soziale und ökonomische Fragen.
Die Gegner in der eigenen Partei, allen voran Herzog, kritisieren allerdings, dass sich Yacimovich zu anderen großen Themenbereichen - etwa zum Friedensprozess, zur Frage der Grenzziehung, zum Status von Jerusalem - auffallend zurückhält. Kürzlich tat sie das nicht, und prompt stieß sie auf vehemente Kritik ihrer Mitbewerber. Zur Frage der umstrittenen jüdischen Siedlungen im Westjordanland meinte sie nämlich, dass diese "weder eine Sünde noch ein Verbrechen" darstellen würden.
Die anderen Kandidaten glauben hingegen, dass durch die privilegierte Stellung der Siedlungen und deren überaus großzügige Förderung durch die Regierung die sozialen Probleme im israelischen Kernland entstehen. Die Friedensbewegung "Peace Now" meinte gar, Yacimovich kooperiere mit den rechtsextremen Parteien.
Auf verlorenem Posten
Fragen wie diese werden im Mittelpunkt stehen, wenn Labor zwischen den beiden bestplatzierten Kandidaten auswählt - am 21. September, wenn Israel vor allem wegen der Ausrufung eines eigenständigen Palästinenserstaates in den Schlagzeilen stehen wird. Zunächst wird die Arbeitspartei versuchen müssen, die Wunden, die ihr der gehässige Zwist um den Vorsitz beigebracht hat, zu lindern.
Aber auch dann wird es noch lange dauern, um an frühere Erfolge anzuschließen. Jüngsten Umfragen zufolge könnte die Arbeitspartei nur wenig dazugewinnen, wenn jetzt Wahlen wären. Noch schlimmer würde es die Zentrumspartei Kadima treffen. Landete diese 2009 noch knapp vor dem Likud-Block, der dann in der Regierungsbildung erfolgreicher war, würde sie jetzt um 10 Mandate auf 18 Parlamentssitze abstürzen. Die Zurückhaltung von Parteichefin Tzipi Livni, die der Protestbewegung kein parteipolitisches Mäntelchen umhängen wollte, hat sich offenkundig nicht bezahlt gemacht.
Bleibt die Frage, ob sich der heiße Protestsommer in irgendeiner Weise politisch niederschlägt. "Wir können ohne Zelte weitermachen", meint Studentenvertreter Badolach. Man werde mit der von Netanyahu bestellten Reformkommission Kontakt halten. Von politischen Programmen oder gar Parteigründungen ist allerdings nicht Rede.