Nach Grubenunglück steigt Wut auf türkischen Premier - der verhält sich wie Elefant im Porzellanladen.
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Ankara. Zuerst sprach der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan von einem ganz normalen Arbeitsunfall, dann traktiert einer seiner Berater einen Demonstranten mit Fußtritten. Die Optik nach der türkischen Gruben-Katastrophe von Soma könnte schlechter nicht sein für den amtierenden Regierungschef - der sich seit dem Sommer 2013 mit der Gezi-Park-Bewegung, einer landesweiten Protestbewegung, konfrontiert sieht. Der moderate Islamist gilt als zunehmend autoritär, an einer Imagekorrektur ist er, scheint es, nicht interessiert. Und da die Türkei in absehbarer Zeit nicht mit einem EU-Beitritt rechnen kann, greift auch der potenziell disziplinierende Einfluss Brüssels nicht.
Erdogan, der sich gerne als Mann des Volkes gibt, hat im Umgang mit dem Jahrhundert-Unglück jedes politische Fingerspitzengefühl vermissen lassen und die Lage verschärft. Der Vorwurf der trauernden und wütenden Hinterbliebenen lautet, dass von den Behörden massive Sicherheitsbedenken in den Wind geschlagen wurden. Die Gewerkschaften prangern mangelnden Arbeiter-Schutz an, die Kumpel seien gezwungen worden, unter brutalen Bedingungen zu schuften, um maximale Profite zu ermöglichen. "Erdogan, tritt ab", heißt es überall, das Unglück hat einmal mehr eine nationale Protestwelle ausgelöst. In Istanbul demonstrierten gestern tausende Menschen mit einer Sitzblockade. Auf ihren Transparenten stand: "Es ist kein Unfall, es ist kein Schicksal, es ist Mord!" und "Unsere Herzen brennen in Soma".
In Izmir ging die türkische Exekutive mit Wasserwerfern gegen die wütende Menge vor. Zu Protesten kam es auch in Mersin und in Antalya.
Am Ort des Unglücks wurden bis jetzt 282 Tote geborgen - rund 100 Bergleute waren immer noch vermisst. Der jüngsten Version des Grubenbetreibers zufolge sind die Bergleute an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung gestorben. Zunächst war von einem Defekt an einer elektrischen Anlage die Rede. Ein Ingenieur meinte, eine ungenutzte Kohlelagerstätte habe sich erhitzt. Das dabei entstandene tödliche Kohlenmonoxid sei durch die Schächte und Stollen gezogen.
Keine Zeit für Trauer
Den überlebenden Bergleuten von Soma bleibt trotz allem keine Wahl: Sie müssen sofort wieder in die Grube steigen, weil sie auf den kargen Lohn angewiesen sind. Es ist davon auszugehen, dass die Kumpel schwer traumatisiert sind - Zeit, um die Ereignisse zu verarbeiten, haben sie nicht. In Soma sind unterdessen 200 Gräber von Freiwilligen ausgehoben worden, um die Opfer zu bestatten.