Am 27. Jänner 1945 befreiten sowjetische Truppen das Konzentrationslager Auschwitz. Der polnische Offizier und Häftling Witold Pilecki hatte seit 1941 Berichte aus dem NS-Vernichtungslager geliefert. Sie blieben folgenlos.
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Am 19. September 1940 fand im besetzten Warschau eine Lapanka, eine Razzia, statt. 2000 Polen wurden verhaftet, in einer Baracke der Wehrmacht gefoltert und die Überlebenden, darunter ein Mann mit Namen Thomas Serafinski, in das deutsche Gefangenenlager bei Oswiecim (deutsch: Auschwitz) in der Nähe von Krakau, das sich damals im Aufbau befand, transportiert.
Niemand ahnte, dass Auschwitz I schließlich zur Keimzelle der größten Vernichtungsstätte des Dritten Reichs werden sollte. Selbst der im Allgemeinen gut informierte polnische Geheimdienst konnte 1940 fast nichts aus dem hermetisch abgeriegelten Gebiet erfahren. In dieser Situation präsentierte Witold Pilecki, Mitbegründer des polnischen Widerstands und der Heimatpartei (Armia Krajowa, AK) seinen Vorgesetzten einen tollkühnen, an Selbstmord grenzenden Plan. Er wolle sich unter falschem Namen freiwillig in das Lager einschleusen lassen. Der 38-jährige Pilecki lief - zum Schutz seiner Familie unter dem Decknamen Serafinski - absichtlich einer SS-Streife in die Hände. Mit dem zweiten Transport kam er nach Au-schwitz.
"mission impossible"
Seine "mission impossible" grenzte an Utopie. Neben dem Aufbau von Widerstandszellen hoffte Pilecki durch geheime Vernetzung der Insassen, das Los der Häftlinge erleichtern zu können. Sein großes Ziel war die Befreiung des Lagers mit polnischer und alliierter Hilfe. Vorerst galt es jedoch die schwierige Anfangsphase zu überstehen. Zusammen mit dem neuen "Zugang" wurde der polnische Offizier von dem als "Schlächter" berüchtigten stellvertretenden Lagerkommandanten empfangen: "Dass sich keiner von euch einbildet, er kommt hier lebend wieder heraus . . . ihr sollt nur sechs Wochen lang überleben. . ."
Pilecki erhielt die Nummer 4859 eintätowiert, wurde kahlgeschoren, fotografiert und kam in Block 17a unter die Obhut des sadistischen "Blutigen Alois", auf dessen Konto täglich mehrere Tote gingen. Bei ersten Misshandlungen verlor er zwei Vorderzähne, stundenlange Appelle zur "Selektion" der Kranken und Schwachen bewältigte er nur auf Grund seiner ausgezeichneten körperlichen Verfassung. Zugute kamen ihm auch seine militärische Schulung sowie seine Erfahrungen im Widerstand. Als tief gläubiger Katholik ließ sich Witold Pilecki bei seiner Mission von den Vorsätzen "Bog, honor, ojczyna" - Gott, Ehre, Vaterland - leiten.
In den über zwei Jahren seiner Haft schrieb er nieder, was er persönlich sah und fühlte, wobei er gelegentlich philosophische Gedanken einfließen ließ. Er fand, eigenen Angaben zufolge, schnell zu einer fast spirituellen Gelassenheit, glaubte schließlich, dass nur Überlebende eines Arbeitslagers den wahren Sinn des Lebens verstehen können: "Ein Mann wurde als das gesehen und galt als das, was er wirklich war . . ."
Witold Pilecki wurde am 13. Mai 1901 in Karelien am Ufer des Ladogasees geboren, wohin man seine polnische Familie wegen Teilnahme am Aufstand gegen die zaristischen Behörden verbannt hatte. Sein Großvater verbrachte sieben Jahre in sibirischen Lagern. Witold trat früh in die Fußstapfen seiner patriotischen Ahnen. Schon mit 15 Jahren gehörte er in seiner von Russland besetzten Heimat einer verbotenen polnischen Pfadfinderorganisation an. 1918 schloss er sich polnischen Selbstverteidigungseinheiten an und 1920 nahm er am polnisch-russischen Krieg teil.
In der Zwischenkriegszeit führte er das Familiengut, heiratete eine Lehrerin und bekam mit ihr zwei Kinder. Bald entschied er sich für eine militärische Laufbahn. Nach dem Überfall NS-Deutschlands auf Polen im September 1939 zeichnete er sich im Kampf gegen die deutschen Invasoren aus; nach der Besetzung seiner Heimat wirkte er in der polnischen Geheimarmee TAP. Zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung stand er im Rang eines Kavallerieleutnants, während der Haft wurde er zum Oberleutnant befördert.
Kein Selbstmitleid
Ausgestattet mit großer mentaler Widerstandskraft und unbeugsamem Mut, bewies er in einem Klima äußerster Brutalität nicht nur Geistesgegenwart und Vernunft, sondern enthielt sich auch jeglichen Selbstmitleides. Entschlossen sammelte er bereits im Oktober 1940 inhaftierte TAP- Mitglieder um sich und schuf eine Auschwitz-Untergrundgruppe (ZOW), die auf dem Prinzip von Zellen beruhte. "Fünfergruppen" operierten voneinander unabhängig, bauten weitere auf, die ihrerseits neue rekrutierten. Die Effi-zienz dieser Strukturen bewährte sich - Pilecki wurde nie als Organisator oder Initiator ausgemacht.
Schon im November 1940 verfasste Pilecki seinen ersten Bericht, in dem er die meisten Personennamen durch Zahlen- und Buchstabencodes zum Schutz der Betroffenen ersetzte. Er beschreibt in beklemmenden Einzelheiten die unmenschlichen Haftbedingungen, die systematische Ermordung von Häftlingen in Arbeitskommandos, den Bau der Krematorien und die ständige, fast nebenbei ausgeübte Brutalität ohne jegliche moralische Grenzen.
An die Außenwelt gelangte das Protokoll des Grauens über einen Mitgefangenen, der vor seiner Entlassung stand. Im Allgemeinen legte man in Auschwitz keine Haftdauer fest. Nur in wenigen Ausnahmefällen kam jemand frei - entweder durch Intervention mächtiger Gönner oder durch Zahlung horrender Lösegelder an korrupte SS-Funktionäre im Lager.
Pileckis brisanter Bericht traf im Umweg über den polnischen Geheimdienst im März 1941 in London ein. Dieses erste offizielle Dokument über das KZ Auschwitz stieß bei den Alliierten auf ungläubige Ablehnung, es galt als wenig glaubwürdig, auf jeden Fall als maßlos übertrieben.
In Auschwitz wurde unter den Augen der Lagerkommandanten auch abseits der großen Hinrichtungswellen wahllos gefoltert und gemordet. Barackenälteste, Kapos und SS-Mannschaften konnten ihre niedrigsten Instinkte ausleben. Nur die gemeldete, täglich variierende Anzahl von Gefangenen musste genau stimmen. Darauf legten die Bürokraten in der Lagerverwaltung, die inmitten des Horrors ungerührt und penibel Akten führten, größten Wert.
Anfang 1942 registrierten Pilecki und seine Mitstreiter die Ankunft jüdischer Häftlinge und deren bevorzugte Unterbringung und Verpflegung. Auf Drängen der SS schrieben diese ihren Verwandten, dass die Zustände ganz erträglich und sie in Polen angesiedelt werden sollten. Es war, wie sich herausstellte, eine teuflische Strategie, mit der man die Widerstände innerhalb der Judengemeinden bei ihrer Deportation aus den besetzten Gebieten zu verringern suchte. Wenig später nahmen die aus ganz Europa ankommenden Judentransporte sprunghaft zu. Bis zu 1000 Menschen kamen täglich an. Man hatte ihnen gestattet, so viel Gepäck mitzunehmen, wie sie selbst tragen konnten. Viele hatten ihren materiellen Besitz verkauft und mit dem Erlös transportable Wertgegenstände erworben. Die mitgebrachten Güter veränderten das Lagerleben. Die SS schwelgte im Überfluss, die Häftlinge zweigten unter Lebensgefahr ab, was sie ergattern konnten.
Zeuge des Masterplans
Von Pilecki stammt die erste Beschreibung vom Anrollen der Güterzüge bis zu den berüchtigten Laderampen, von der Einweisung der Menschen in angebliche Duschräume und den anschließenden Massenvergasungen, denen über eine Million Menschen zum Opfer fielen.
"Die Türen der Halle wurden geschlossen. Von oben wurden mehrere Gasbehälter geöffnet und die Körper danach auf die Verbrennungsroste geworfen. In Auschwitz arbeiteten die Häftlinge rund um die Uhr in drei Schichten im Krematorium an der Verbrennung der Ermordeten."
Die ganze Ungeheuerlichkeit und den Umfang dieses Verbrechens, das später als Holocaust bekannt werden sollte, blieb Pi- lecki verborgen. Zwar selbst täglich mit größter Brutalität konfrontiert, ahnte er nicht, dass er Zeuge der Umsetzung eines Masterplans wurde, mit dem Endziel der Vernichtung aller europäischen Juden.
1942 hatten Pileckis Anhänger alle wichtigen Lagerbereiche infiltriert - das Lazarett, die Arbeitskommandos, die Außenwerkstätten und die Verwaltung. Man hatte sogar ein von Juristen unter den Insassen gebildetes Geheimgericht geschaffen, das besonders grausame Kapos, SS-Leute und Denunzianten verurteilte und bei Gelegenheit - etwa wenn diese im Lazarett lagen - ermordete. Zeitweise gelang die Installation eines Geheimsenders. Auf jeden Fall war Pileckis Organisation, zu der auch eine Einsatzgruppe gehörte, zu einem Aufstand bereit, mit dem man einen Militäreinsatz von außen unterstützen wollte.
Doch jede Hilfe blieb aus. Nach zweieinhalb Jahren Haft verliert Pilecki, der mit einer Operation zu Lande, eventuell mit Luftunterstützung durch eine polnische Fallschirmjägerbrigade aus England gerechnet hatte, die Geduld. Er entschließt sich zur Flucht, die ihm mit Hilfe seiner Organisation, genauer Planung der Details, gefälschter Ausweise und Versetzung in eine außerhalb des Lagers gelegene Bäckerei am 26. April 1943 auch gelingt.
Späte Rehabilitation
In Freiheit verfasste Pilecki seinen eindringlichen, elf Seiten langen "Raport W", mit dem er die Alliierten erneut zu einer Militärintervention, an der er selbst teilnehmen wollte, zu bewegen suchte. Vergeblich. Im Sommer 1945, unmittelbar nach der Kapitulation von NS-Deutschland, schrieb Witold Pilecki in Italien, wo er mit dem Polnischen II. Korps unter britischem Kommando stationiert war, seinen dritten und letzten Bericht über Auschwitz.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehörte Polen zur russischen Einflusssphäre. Pilecki lehnte ein sowjetisch dominiertes Polen ab. Obwohl er jahrelang gegen die Nationalsozialisten gekämpft hatte, stuften ihn die Kommunisten als "Faschisten" und "Agenten des Imperialismus" ein. Denunziert von seinen eigenen Landsleuten, gefoltert und in einem Schauprozess zum Tode verurteilt, wurde der hoch dekorierte Offizier der polnischen Heimatarmee am 25. Mai 1948 durch Genickschuss hingerichtet.
Seine Rehabilitation erfolgte erst 1990 nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes. Im Jahr 2000 erschienen Pileckis Auschwitz-Berichte. 2006 wurde ihm postum der Weiße Adler, der höchste Orden Polens, verliehen.
Anna Maria Sigmund ist Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und Autorin zahlreicher historischer Bücher, darunter "Die Frauen der Nazis", "Das Geschlechtsleben bestimmen wir. Sexualität im Dritten Reich" und "Des Führers bester Freund".