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"Prügel einstecken, um gehört zu werden"

Von Alexander Dworzak

Politik

Soziale Medien wie Twitter werden zu Katalysatoren kreativer Bilderproduktion.


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"Wiener Zeitung":Die Bürger begehren derzeit auf: in der Türkei, in Bulgarien gegen die neue Regierung oder in Brasilien, wo gegen milliardenschwere Prestigeprojekte demonstriert wird. Ist diese Gleichzeitigkeit Zufall oder zeichnet sich ein neuer Trend ab?Franz Seifert: Es gibt gleich mehrere Parallelen zwischen den Ereignissen in der Türkei und in Brasilien. In beiden Ländern revoltiert die Mittelklasse und es sind Jugendliche und Studenten, die das Rückgrat der Bewegung bilden. Und beide Staaten sind in den vergangenen zehn Jahren ökonomisch höchst erfolgreich gewesen, sie verzeichneten hohe Wachstumsraten. Die Türkei und Brasilien gelten mittlerweile als wirtschaftlich liberal und zunehmend in den Weltmarkt integriert. Solche Wachstumserfolge sind selten gleich verteilt. Bulgarien lässt sich nicht vergleichen, die Proteste dort haben andere Gründe (siehe Artikel unten).

Hat die wirtschaftliche Öffnung zu einer wachsenden sozialen Kluft beigetragen?

In Brasilien hat es sozialdemokratische Umverteilungsversuche gegeben, die aber letztlich nichts daran ändern, dass kleine Gruppen sehr reich geworden sind in den vergangenen Jahren und die breite Masse vergleichsweise wenig am Wachstum partizipierte. Das ändert jedoch nichts daran, dass sowohl in der Türkei als auch in Brasilien die nunmehrigen Demonstrationen keine Sozialproteste sind.

Sondern?

Endemische Korruption ist das Hauptproblem in Brasilien. Der Staat versagt an allen Ecken und Enden, insbesondere bei der Bekämpfung der Kriminalität. Darunter leidet die Bevölkerung extrem. Für eine Lösung des Problems, etwa die Sanierung von Slums, hat die Regierung nicht genügend Mittel, dafür gibt sie elf Milliarden Dollar alleine für die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 aus. In der Türkei herrscht bereits seit längerem Unzufriedenheit mit der islamistischen Agenda von Premier Recep Tayyip Erdogan, insbesondere unter der Mittelklasse, in Städten und bei der alten kemalistischen Elite. Der unmittelbare Auslöser war die exzessive Polizeigewalt gegen harmlose Parkbesetzer. Es handelt sich dabei um eine autoritäre Repression, die auch viele Menschen vor Ort nicht nachvollziehen können.



Worin wurzelt diese "autoritäre Repression"?

Die Türkei hat eine Tradition als autoritärer Staat, ebenso Brasilien, schließlich hat es sich aus einer Diktatur entwickelt. Doch auch das kann das Vorgehen der Polizei gegen die Demonstrationen nicht erklären, bei denen es sich bekanntermaßen um friedliche Kundgebungen handelte.

Dennoch steht eine Mehrheit der Türken hinter Erdogan.

Weil sie ihre konservativen und zum Teil islamistischen Werte repräsentiert sieht, kein Problem mit einem autoritären Staat hat und auf mehr Wohlstand aufgrund des Wirtschaftswachstums hofft. Es ist höchst fraglich, inwiefern sich breite Bevölkerungsgruppen mit dem Anliegen der Gezi-Park-Besetzer identifizieren.

Warum protestieren die Bürger derzeit in der Türkei oder Brasilien, während es in Spanien, wo 50 Prozent der unter 30-Jährigen keine Arbeit haben, verhältnismäßig ruhig ist?

Wir sehen derzeit eine kurzfristige Mobilisierung. In der Türkei ist die Protestbewegung erst zwei Wochen alt, während Spanien bereits seit mehr als drei Jahren gegen die Finanz- und Wirtschaftskrise kämpft. Energie und Intensität für längere Zeiträume aufrecht zu halten ist ein grundsätzliches Problem für soziale Bewegungen. Diese basieren auf Netzwerken und Symbolen, die kurzfristig mobilisiert werden können. Empathie und Empörung werden damit bei den Zuschauern geschaffen, im Idealfall auch Mobilisierung. Doch diese Mobilisierung hält selten länger an.

Wie schaffen Bewegungen Stabilität?

Über Organisation. Parteien können beispielsweise über einen langen Zeitraum agieren.

Wenn das nicht gelingt: Schläft der Protest ein?

Nicht unbedingt. Es gibt immer Akteure, die an der Sache dran bleiben sowie starke Wechselwirkungen zwischen Bewegungen. Das sind oftmals wenig sichtbare Strukturen, die in der Folge zu weiteren Mobilisierungen beitragen - wie die Occupy-Bewegung. Occupy Gezi Park geht unmittelbar auf Occupy Wall Street zurück, das sich 2011 als Reaktion auf die Finanzkrise formierte. Occupy Wall Street hat Muster, Modelle und Symbole geschaffen, die Folgebewegungen nutzen.

Protestgruppierungen sehen sich häufig mit dem Vorwurf der mangelnden Legitimität konfrontiert. Wie können sie diesem Druck entgegenwirken?

Sie müssen mobilisieren, Allianzpartner gewinnen und positive Resonanz in der Öffentlichkeit erzeugen. In der Türkei ist es zu einem gewissen Grad gelungen - auf Kosten der Verletzungen, welche die Demonstranten erlitten haben. Die Leute lassen sich prügeln, um Resonanz zu erzeugen, das ist ein etabliertes Mittel, um zu zeigen, wie ernst einer Bewegung das Anliegen ist. Die Intensität hängt mit dem staatlichen Kontext zusammen: In funktionierenden Demokratien sehen wir solche Muster nicht; die letzte Bewegung dieser Art in Österreich war Hainburg 1984.

Neue Medien wie Twitter spielen bei der Auseinandersetzung in der Türkei eine große Rolle. Können diese mehr als nur ein Strohfeuer der Empörung entfachen?

Die sozialen Medien sind eine Technologie, mit der ich Themen befördern, Prozesse beschleunigen und über Grenzen koordinieren kann. Sie bilden alternative Medien zu den staatlichen, die in der Türkei gleichgeschaltet zu sein scheinen. Die via Facebook und Twitter verbreiteten Bilder sagen mehr als 1000 Worte, und sie sind Katalysatoren einer kreativen Bilderproduktion. Dieser Prozess begann mit den Protesten gegen die WTO in Seattle 1999 und setzte sich bei Weltsozialforen fort, etwa mit Maskeraden. Auf spielerische Weise wurden dadurch brisante Themen medial transportiert.

Im Arabischen Frühling wurde die Protestbewegung, die ebenfalls auf Social Media setzte, von Militär und den Muslimbrüdern marginalisiert. Gibt es in der Türkei auch einen Akteur, der sich als später Profiteur herausstellen wird?

Das scheint die Karte zu sein, auf die Erdogan setzt. Er zielt auf Einschüchterung und Marginalisierung ab.

Zur Person



Franz Seifert

ist freier Sozialwissenschafter und forscht zu nationalen und transnationalen Protestbewegungen.

Protestbewegungen
(rs) "Occupy Wall Street": Am 17. September 2011 zogen hunderte Demonstranten zum ersten Mal durch den Finanzbezirk in New York und skandierten "Occupy Wall Street". Sie forderten höhere Steuern für die Reichen und Zügel für die Bankenwelt. "We are the 99 Procent", schmetterten sie den Bankern entgegen. Die belächelten die Demonstrationen zunächst. Doch die Bewegung breitete sich von New York in immer mehr Städte weltweit aus. Nach zwei Monaten endete die Besetzung der Wall Street jedoch jäh: Die Polizei räumte das Camp der Protestler im nahen Zuccotti Park in einer Nacht- und Nebelaktion. Die "Occupy Wall Street"-Bewegung, die sich bis zum Schluss eher auf allgemeine und globale Forderungen denn auf konkrete Ziele konzentrierte, verschwand in der Versenkung.

Stuttgart 21: Ähnlich wie beim Istanbuler Gezi-Park entzündeten sich auch hier die Proteste an einem Umgestaltungsprojekt. Der alte Kopf-Bahnhof sollte abgerissen und durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof ersetzt werden. Die seit 2009 regelmäßig stattfindenden Montagsdemonstrationen entwickelten sich im Laufe des Herbstes 2010 zu regelrechten Massenereignissen. Im Oktober nahmen zumindest 70.000 Menschen an den Protesten teil. Bei den unmittelbar vorangegangenen Protestzügen hatte die Polizei zu Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern gegriffen. Ein Protestteilnehmer verlor dadurch sein Augenlicht fast vollständig. Nach den vom CDU-Politiker Heiner Geißler geleiteten Schlichtungsgesprächen wurde schließlich am 7. November 2012 in einer Volksabstimmung über das Schicksal von Stuttgart 21 entschieden: Eine Mehrheit von 58,7 Prozent sprach sich für den Neubau aus.