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Pubertät heißt: Persönliches Chancenpotential entwickeln

Von Erich Brunmayr und Mathilde Stockinger

Politik

Geschlechtsreifung bedeutet nur einen Teil der Pubertät. | Entscheidend ist, wer Jugendliche in diesem Alter begleitet. | St.Pölten/Gmunden. In unserem Kulturkreis wird die Pubertät in erster Linie unter der Perspektive der Geschlechtsreifung gesehen. Natürlich führt diese zu einer Verunsicherung und Neuorientierung. Es gibt aber einen viel wichtigeren lebensgestaltenden Prozess, der in diesem Alter stattfindet: nämlich die Entwicklung einer neuen Qualität des Denkens. Das Kind denkt und handelt im Wesentlichen auf einer einzigen Bewusstseinsebene. Im Alter von etwa 12 bis 14 Jahren entwickelt sich die Fähigkeit, auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu denken: Ich beobachte mich.


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Auseinandersetzung mit Wirklichkeitsbildern

In dieser Phase beginnt der Jugendliche, sich mit sich selbst und seinen bisherigen Wirklichkeitsbildern auseinander zu setzen. Er beginnt In-Frage zu stellen. Das ist ein natürlicher Prozess, der seit Jahrhunderten den menschlichen Entwicklungsprozess kennzeichnet. Der Jugendliche wird sich seines Körpers bewusst: beginnt, sich die Haare zu färben, alle möglichen und unmöglichen Kleidungsarten zu probieren, sich ungeheuer stark zu fühlen oder besonders lässig zu sein etc.; manchmal finden wir diese Pubertätsäußerungen auch in höheren Lebensjahren.

In dieser Altersstufe setzt sich der Jugendliche aber nicht nur mit seinem Körper auseinander, sondern auch mit den bisher wichtigen Personen und den von ihnen gelernten Wirklichkeitsbildern. Er setzt sich mit seinen Eltern, mit den Lehrern etc. auseinander und stellt vieles in Frage. Das ist der normale pubertäre Entwicklungsprozess aber noch lange nicht kritisches Denken!

In diesem Auseinandersetzungsprozess liegen wichtige Chancenpotentiale für die künftige Lebensgestaltung. Neue Perspektiven verändern oder stabilisieren die elterlichen Lebensbilder. Neue Bewältigungsstrategien und Lebensformen werden entwickelt. Gesellschaft, politische Parteien, weltanschauliche Organisationen, Vereine etc. können sich durch ihre Jugend erneuern. Jugend kann Impulse für Reform und Erneuerung geben: Jugend als gesellschaftliches Erneuerungspotential!

Diesen Prozess können wir konstruktiv fördern, indem wir Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Standpunkten und Perspektiven initiieren: In der Schule z.B. durch die Auseinandersetzung mit interessanter Literatur, mit Politik aus unterschiedlichen Perspektiven, mit Wirtschaft, mit verschiedenen kulturellen Genres etc. In den Familien geschieht Auseinandersetzung, indem Eltern auch für Konflikte zur Verfügung stehen und nicht feige jeder Auseinandersetzung mit ihren Kindern aus dem Weg gehen, indem sie für alles Verständnis haben. Viele Jugendliche verzweifeln an ihren elterlichen Gummiwänden!

Kontraproduktiv ist jede Indoktrination von parteipolitischen, gutmenschlichen, frommen und anderen festgefügten Erklärungsmustern. Mündigkeit entsteht dadurch, dass wir die vielen und unterschiedlichen Standpunkte zu den aktuellen Lebensfragen der Politik, der Partnerschaft, des Berufs, der Arbeit und Leistung, der Freundschaft, Verantwortung etc. kennen und beurteilen lernen. Dadurch werden Bilder aufgebaut, mit denen der Jugendliche über die bisher erlebte familiäre Wirklichkeit hinauswachsen kann.

Die Frage ist, wer in diesem Alter die Begleiter des Jugendlichen sind. Entwicklungsbedingt löst er sich von seiner Herkunftsfamilie und sucht neue Beziehungsqualitäten: bei Freunden, bei Vereinen, bei positiv oder auch bei negativ agierenden und denkenden Cliquen. Der Jugendliche probiert neue Standpunkte und daraus gewonnene Perspektiven aus. Man braucht die Altersgruppe, die aufgrund der gleichen Lebensproblematik Geborgenheit und Wertschätzung bietet.

Chancen und Gefahren von Beeinflussung

In diesem Alter bestehen ungeheure Chancen zur Beeinflussung: zur Beeinflussung in Richtung Engagement und Eigenverantwortung, aber auch zur kommerziellen oder politisch-populistischen Verführung.

Es geht auch darum zu erkennen, dass Pubertät eine Entwicklungsphase ist, die im Erwachsensein abgeschlossen ist, eine Persönlichkeitsklärung mit sich bringt und in ihrer Abgeschlossenheit dem Erwachsenen ein differenziertes Denken und Handeln ermöglicht. Im Erwachsenenalter steht die Sicherheit, persönliche Entscheidungen treffen zu können und zu wollen. Pubertät bedeutet Standortsuche. Am Ende gut begleiteter Pubertät begegnen wir kompetenten Erwachsenen, die den Entwicklungen des Lebens positiv und kritisch gegenüberstehen.

Dr. Erich Brunmayr ist Sozialforscher (NÖ-Landesakademie, St. Pölten), Mathilde Stockinger Betreuungslehrerin (Gmunden).