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Pufferzone Hellas

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglou

Politik

Am Montag sollen die Abschiebungen von Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei beginnen.


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Chios/Athen. Endlich frei. Freitagmittag auf der Insel Chios in der Ost-Ägäis durchbrechen Frauen, die meisten mit Kopftüchern, Kinder, ältere Männer und Kranke die Einzäumung. Hunderte Flüchtlinge durchschnitten den Drahtzaun, der um den Hotspot, das Registrierungszentrum, gezogen ist. Das Lager ist nämlich seit dem 20. März per Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei schlagartig für sie geschlossen worden. Plötzlich sind sie frei. Und keiner hält sie auf. Die griechische Polizei schaut einfach zu.

Zwischen Olivenhainen und kleinen, malerischen Dörfern laufen sie in Gruppen. Sie tragen ihr ganzes Hab und Gut. Sie freuen sich, sie lachen. Ihr nächstes Ziel: der Hafen, acht Kilometer entfernt. Danach: Das weiß niemand.

Was sie unisono sagen: Sie hätten gerade eine Hölle verlassen. Vor ihrem Ausbruch am Freitag wurden exakt 1529 Flüchtlinge im Hotspot Chios festgehalten. Die Kapazität des Lagers: 1100 Menschen. Die Konsequenzen daraus: In der Nacht zu Freitag gerieten hier Syrer und Afghanen aneinander. Steine flogen, es gab Messerstechereien. Die Polizei schritt ein. Drei Personen wurden mit Verletzungen ins Krankenhaus gebracht.

Bereits am kommenden Montag soll nun die Rückführung der Neuankömmlinge von den griechischen Inseln in der Ost-Ägäis in die Türkei beginnen. Abgeschoben werden sollen aber nur die "neuen" illegalen Einwanderer. Das sind jene, die seit dem Stichtag am 20. März von der Türkei kommend über die Seegrenze die griechischen Inseln -und damit die EU - erreicht haben. So sieht es der EU-Türkei-Deal vor.

47.000 "alte" illegale Einwanderer aber, also jene, die noch rechtzeitig vor dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals, aber nach den faktischen Grenzschließungen auf der berühmt-berüchtigten Balkanroute vor ein paar Wochen in Hellas gestrandet sind, harren mittlerweile auf dem griechischen Festland in landesweit 34 Lagern aus, davon 11.318 unter erbärmlichen Zuständen in Idomeni an der griechischen Nordgrenze und weitere 5377 im Hafen von Piräus. Was dort beinahe zur Tagesordnung gehört: schwere Zusammenstöße, meist zwischen Syrern und Afghanen. Am Freitag zählte die Regierung kumuliert 5720 Insassen in den fünf Insel-Hotspots auf Lesbos (3311), Chios (1529), Samos (731), Leros (0), Kos (51) sowie ferner auf Rhodos (88) und Megisti (10). Fast alle kamen nach dem 20. März.

Abschiebungen ins Bürgerkriegsland

Die Regierung unter dem linken Premier Alexis Tsipras brachte Mitte der Woche einen 102-seitigen Gesetzentwurf mit 89 Artikeln ins griechische Parlament ein. Er schafft die Grundlagen für die Umsetzung des EU-Türkei-Deals. Die Verabschiedung erfolgte am Freitagabend im Eilverfahren. Darin wird weder die Türkei noch ein anderer Staat ausdrücklich als "sicherer Drittstaat" für Flüchtlinge genannt. In Artikel 57 werden dafür als "sichere Herkunftsländer" alle Staaten bezeichnet, die "auf der betreffenden Liste des EU-Rates aufgeführt" seien.

Athens Vizepremier Jannis Dragasakis, ein enger Tsipras-Vertrauter, gab die Marschrichtung vor. Der Deal mit der Türkei sei unter allen Optionen die beste Lösung. Zugleich legte er den Finger in die Wunde: "Das bedeutet nicht, dass das Abkommen nicht auch Probleme, Grauzonen hat. Man wird sehen, ob es sich in der Praxis bewähren wird."

Laut Amnesty International wurden seit Jänner fast täglich Gruppen von bis zu 100 Menschen von der Türkei nach Syrien zurückgeschickt. Nachforschungen an der türkischen Südgrenze haben gezeigt, dass die Türkei derzeit kein "sicherer Drittstaat" für Flüchtlinge sei. Die EU-Kommission erklärte nun, sie wolle die Berichte über Abschiebungen syrischer Flüchtlinge aus der Türkei in das Bürgerkriegsland prüfen. Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR forderte, dass die Menschen in der Türkei internationalen Schutz erhielten und vor Abschiebungen geschützt werden.

Nach dem EU-Türkei-Deal sollen ab dem 4. April Flüchtlinge von Griechenland in die Türkei zurückgebracht werden. Für jeden Syrer, den die EU abschiebt, soll ein anderer Syrer auf legalem Weg in die EU kommen - die Union plant derzeit mit bis zu 72.000 Personen.

Aber der Verwaltungsaufwand ist schier unmöglich. Nun müssen 47.000 gestrandete "alte" Flüchtlinge einen Asylantrag stellen, der, wie geplant in Schnellverfahren in wenigen Tagen - und in zwei Instanzen - bearbeitet werden soll. Dazu kommen die aktuell gut 5000 Menschen in den Lagern. Und es ist zu erwarten, dass fortan wohl fast alle Neuankömmlinge einen Asylantrag in Griechenland stellen werden, um einer umgehenden Abschiebung in die Türkei zu entgehen.

Jeder muss nun einen Antragin Griechenland stellen

Derweil ist aber erst ein Bruchteil der 4000 Beamten aus anderen EU-Ländern, die bei der Umsetzung helfen sollen, darunter Asyl-Richter und Übersetzer, in Hellas eingetroffen. Die aktuell rund 260 Beamten der Athener Asylbehörde reichen für die Pufferzone Griechenland nicht aus.

Die Experten sind sich einig: Sinkt nicht schnell die Zahl der Neuankömmlinge, ist der EU-Türkei-Deal Makulatur, bevor die Tinte auf dem Papier getrocknet ist.

Spontaner Jubel in Brüssel, Berlin oder Wien über an einigen Tagen gesunkene Flüchtlingsankünfte in Hellas nach dem 20. März, die angeblich auf Anhieb die Effizienz des Abkommens belegten, ist jedenfalls verfrüht. Denn: Der Rückgang war auf den an jenen Tagen starken Wind in der Ost-Ägäis zurückzuführen. Er vereitelte ein Übersetzen der Boote auf die griechischen Inseln. Zwar werden die Spitzenwerte im vorigen Herbst auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise nicht annähernd erreicht. Dennoch: Zuletzt zählte Hellas bis zu 800 Neuankömmlinge pro Tag, in der Nacht auf Freitag waren es 339, alle auf Lesbos und Chios.

Unterdessen entpuppt sich der gerne fernab von Hellas vorgebrachte Vorwurf, wonach die Griechen die EU-Außengrenze zur Türkei nicht ausreichend sicherten, als pure Propaganda. Denn: Seit März patrouillieren Nato-Schiffe in der Ost-Ägäis. Der Nato-Einsatz sollte die Wunderwaffe gegen Schlepper sein - offensichtlich aber ohne Erfolg. Griechische Medien überziehen die Nato mit Häme und Spott.

Pikant: Von den abgestellten sieben Nato-Schiffen operieren aktuell nur drei in der Region. Drei weitere Nato-Schiffe liegen in Piräus und Salamis im fernen Attika vor Anker, das siebente Nato-Schiff ist an der türkischen Küste festgemacht - trotzdem steigen die Flüchtlingszahlen von der Türkei nach Hellas erneut.