Bei Lyman droht Russland eine weitere Niederlage. Zur gleichen Zeit will Präsident Putin Tatsachen schaffen.
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Vor ein paar Monaten war die Straße mit der Nummer 0528 noch eine unbedeutende Nebenroute im Osten der Ukraine. Auf dem knapp 15 Kilometer langen Stück Asphalt gelangte man in weniger als 20 Minuten von Lyman nach Saritschne - zwei Orte, die vor dem Beginn des Krieges zusammengenommen nicht einmal 25.000 Einwohner hatten.
Für die in Lyman stationierte 144. mechanisierte Schützendivison der russischen Armee ist Straße 0528 in den vergangenen Tagen allerdings zur Lebensader geworden. Alles, was in die strategisch enorm wichtige Stadt hinein oder hinaus muss, kann nur noch über diese Strecke transportiert werden. Doch mit den jüngsten Vorstößen der ukrainischen Truppen aus dem Norden und Süden scheint auch diese letzte Verbindung gefährdet. Russische Militärblogger berichten, dass sich die Ukrainer immer weiter an Saritschne herankämpfen, ein Großteil der 0528 soll bereits unter der Feuerkontrolle der ukrainischen Artillerie liegen. Dass die russischen Truppenverbände den Einkesselungsversuch abwehren können, scheint damit nahezu aussichtslos. Es sei nicht die Frage, ob Lyman falle, sondern wann, schreibt der Militäranalyst Franz-Stefan Gady auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.
Sollten die russischen Truppen in Lyman umzingelt werden, wäre das eine ähnlich schwerwiegende und folgenreiche Niederlage wie der chaotische Zusammenbruch der Front im Oblast Charkiw Anfang September. Denn mit der Einkesselung der Stadt würde es der Ukraine nicht nur gelingen, einen großen russischen Verband samt Panzern und Artilleriegeschützen unschädlich zu machen. Russland müsste auch seine Ambitionen begraben, die restlichen Teile des Donbass von Norden her zu erobern. Ohne Lyman ist ein Vorstoß auf die weiter im Süden gelegenen Großstädte Slawjansk und Kramatorsk laut westlichen Militärexperten nicht realisierbar, ganz zu schweigen vom ursprünglichen Plan, der eine Vereinigung mit den russischen Truppen aus Donezk vorsah.
Sollte es der Ukraine gelingen, die Eisenbahnlinien in der Region um Lyman zu reparieren, könnte zudem deutlich leichter Nachschub herangeschafft werden. "Damit wird sich die Fähigkeit Kiews, die Donbass-Front zu versorgen, erheblich verbessern", schreiben Christian Mölling und Andras Racz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in einer Analyse für das ZDF.
Ein neues Eskalationsniveau
Dass sich die russischen Truppen in Lyman noch im letzten Moment absetzen und damit große Verluste an Mensch und Material verhindern, scheint derzeit aber nicht nur wegen der immer tieferen Vorstöße der ukrainischen Armee unwahrscheinlich. Denn die dann nicht mehr zu leugnende Niederlage würde just zu jener Zeit kommen, in der Wladimir Putin nach den völkerrechtswidrigen Scheinreferenden in Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja Tatsachen schaffen möchte. So will der russische Präsident bereits diesen Freitag die Annexion der besetzten ukrainische Gebiete offiziell machen und im Großen Kreml-Palast die entsprechenden Dokumente unterzeichnen. Danach soll es am frühen Nachmittag eine Rede Putins geben, die nach Aussage von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow "voluminös" ausfallen soll. Geplant ist auch eine große Kundgebung im Zentrums Moskaus, die den angeblichen Rückhalt der Russen für Putins Politik demonstrieren soll.
Der Westen und Kiew haben bereits erklärt, die Annexion der Gebiete, die ungefähr der Größe Portugals entsprechen, nicht anerkennen zu wollen. Mit Putins Beschluss erreicht der bereits sieben Monate dauernde Krieg aber wohl zweifellos seine gefährlichste Phase. Denn künftig will die Regierung in Moskau jeden Rückeroberungsversuch als Angriff auf russisches Staatsgebiet werten, der mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zurückgeschlagen werden kann. Nicht zuletzt um den Westen einzuschüchtern, hatten Putin und Ex-Präsident Dmitri Medwedew in diesem Zusammenhang auch implizit mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht.
Unklar ist bis jetzt allerdings geblieben, wie die Regierung in Moskau mit der Tatsache umgehen will, dass es in den vier Oblasten, die es sich einverleiben will, noch große Gebiete gibt, die unter ukrainischer Kontrolle stehen. Eine Möglichkeit, über die derzeit in westlichen Sicherheitskreisen spekuliert wird, sind Ultimaten. So könnte Russland der Regierung in Kiew eine Frist setzen, innerhalb der die ukrainischen Truppen abgezogen werden sollen. Dass die Ukraine darauf eingeht, ist nicht zuletzt nach den jüngsten militärischen Erfolgen im Osten des Landes, aber nicht vorstellbar.•