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Moskau · Keine Wahlplakate, keine Slogans, keine Großveranstaltungen: Obwohl in Russland in zweieinhalb Wochen ein neuer Staatschef gewählt wird, ist der haushohe Favorit Wladimir Putin | keineswegs im Wahlkampfstress. Der Interimspräsident macht einfach keinen Wahlkampf. "Die Politiker sollten dem Volk ihre Fähigkeiten durch ihre tägliche Arbeit beweisen und nicht, indem sie | irgendeinen Humbug inszenieren oder leere Versprechungen machen", sagte Putin kürzlich bei einem Besuch im sibirischen Surgut.
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Politische Beobachter halten Putins Taktik durchaus für geschickt. "Es ist völlig klar, warum Putin keinen Wahlkampf macht", meint der Moskauer Politikwissenschaftler Andrej Pjontkowski. "Das
würde ihn nur Stimmen kosten."
In der Tat sind die Meinungsumfragen für die Wahl am 26. März eindeutig: Für Putin werden derzeit Sympathiewerte von deutlich über 50 Prozent ermittelt, was ihm einen Sieg bereits im ersten Wahlgang
sichern würde. Der Urnengang, so meinen Experten, gleiche somit eher einer Krönung als einer tatsächlichen Wahl. In dieser komfortablen Situation kann der amtierende Staatschef sich den Luxus
leisten, in einem Fernsehspot jegliche Wahlkampfaktivitäten als überflüssig abzuqualifizieren. Nur Spott hatte er für Journalisten übrig, die ihn nach seinen Imageberatern fragten: Die braucht der 47-
Jährige nach eigenen Angaben nicht.
So unterscheiden sich die Wochen vor der Wahl in diesem Jahr grundlegend von dem erbitterten Kampf, den sich der frühere Präsident Boris Jelzin und sein kommunistischer Herausforderer Gennadi
Sjuganow 1996 lieferten. Damals tourte der gesundheitlich bereits angeschlagene Jelzin mit einem ganzen Sack voll Versprechungen durch alle Provinzen, um sich beim Volk die notwendige Unterstützung
zu sichern. Putin lehnt diese Strategie ab: "Wer unrealistische Versprechungen macht, enttäuscht sich selbst, und diejenigen, denen er sein Wort gegeben hat."
Hinter Putins Taktik des "business as usual" steht nach Einschätzung von Beobachtern jedoch auch kühles politisches Kalkül. "Bei Wahlkampfauftritten müsste Putin zu einer ganzen Reihe von Themen klar
und eindeutig Position beziehen", sagt der Politikwissenschaftler Pjontkowski. "Das hat er derzeit gar nicht nötig, denn jeder sieht in ihm, was er will. Die Kommunisten halten ihn für den starken
Patrioten, während liberale Kräfte sich Hoffnung auf eine Einbindung der Reformer machen." Andere argumentieren, der eigentliche Wahlkampf spiele sich in Tschetschenien ab: Denn durch den
unerbittlichen Kampf gegen die Rebellen in der abtrünnigen Kaukasusrepublik hat Putin erheblich an Ansehen gewonnen, und der Krieg ist immer noch ein wichtiges Thema für das russische Volk.
Im übrigen bedeutet Putins Absage an einen Wahlkampf im herkömmlichen Sinne auch nicht, dass er nicht im Land umherfahren und mit den Menschen sprechen würde: Bei einer Reihe von Reisen in
verschiedene Winkel des riesigen Landes hat er mit Landwirten in Krasnodar diskutiert, mit Bergarbeitern in Irkutsk gesprochen und Soldaten in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, geehrt. Und stets
hat er dabei vor allem versucht, sich als Präsident zu präsentieren. Seine Strategie, so meinen Beobachter, sei klar: Wer bereits alles hat und tut, um das höchste Staatsamt auszufüllen, dessen
Eignung wird erst gar nicht in Frage gestellt.
Angesichts der hohen Sympathiewerte im Land kann Putin es sich sogar leisten, öffentlich innenpolitisch umstrittene Überlegungen anzustellen: So zog er sich kürzlich erbitterte Kritik unter anderem
von seinem kommunistischen Herausforderer Sjuganow zu, als er eine Mitgliedschaft Russlands in der NATO nicht ausschloss. Experten werten dies als Beweis dafür, dass Putin sich seiner Wahl so sicher
ist, dass er bereits auf die Zeit nach seiner Bestätigung im Amt schielt und nach dem Kosovo-Konflikt und dem Krieg in Tschetschenien die Basis für eine positive Zusammenarbeit mit dem Westen legen
will.
Nach außen gibt Putin sich allerdings noch zurückhaltend. Auf die Frage eines Bergwerkchefs, ob der Präsident ihnen denn am Bergarbeitertag im August einen Besuch abstatten werde, sagte er
salomonisch: "Wir müssen abwarten, wer dann im Kreml regiert."