Garri Kasparow über die Notwendigkeit, Moskaus Vormarsch in der Ostukraine zu stoppen.
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"Wiener Zeitung": Trotz des erneuerten Waffenstillstandsabkommens von Minsk gehen die Kämpfe in der Ostukraine weiter. Was soll der Westen tun, wenn Russland das Abkommen weiterhin bricht?Garri Kasparow: Minsk I und Minsk II waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die Art und Weise, wie diese Vereinbarungen aufgesetzt wurden, aber auch die darin enthaltenen Formulierungen ließen Putin viel zu viel Spielraum, sie nach Belieben zu interpretieren. Russland betrachtet Minsk als Möglichkeit, die okkupierten Gebiete in der Ostukraine zu sichern und darüber hinaus die annektierte Krim letztlich einfach aus der Diskussion verschwinden zu lassen. Deswegen denke ich nicht, dass irgendeine Vereinbarung solcher Art von Dauer sein wird. Es sei denn, der Westen ist bereit, neue Zugeständnisse zu machen, was Putins Appetit sicherlich weiter anregen würde.
Halten Sie die Sanktionen des Westens für ein probates Mittel?
Das Problem mit den Sanktionen ist, dass sie zu wenig streng sind. Solange der Westen in der Ukraine-Krise keine klare Botschaft aussendet und seinen Willen nicht deutlich macht, sie gemäß internationalem Recht zu beenden, wird Putin seine Agenda weiter durchdrücken.
Sollten sich die Vereinigten Staaten im Falle einer militärischen Eskalation der Lage direkt einmischen?
Die nächste Eskalation wird die Konfrontation mit der Nato sein. Wenn Putin anfängt, drastisch gegen Estland oder Lettland vorzugehen, stehen wir natürlich vor einer ganz anderen Herausforderung. Wenn man sich tatsächlich Sorgen um die Zukunft macht, dann stoppt man Putin am besten schon in der Ukraine. Es gibt immer noch eine Chance, eine offene Konfrontation zwischen Russland und der Nato zu verhindern.
Sehen Sie wirklich eine Gefahr, dass sich der Konflikt über die Grenzen der Ukraine hinaus ausbreiten wird?
Für Putin ist die Konfrontation der einzige Weg, um an der Macht zu bleiben. Und die Geschichte lehrt uns eine simple Regel: Mit jedem Tag, an dem man eine Antwort auf derartige Provokationen aufschiebt, erhöht sich der Preis. Jeden Tag liest man Stellungnahmen verschiedenster Politiker sowie Listen mit "Dingen, die Präsident Wladimir Putin niemals tun würde". Er hat sie aber schon getan. Diese Liste ist endlos und dummerweise sitzen wir jetzt hier und sagen: "Na ja, aber das würde er doch nicht tun." Er wird es tun, weil ein Diktator niemals nach dem "Warum" fragt. Er fragt lediglich: "Warum nicht?" Ich denke, wir sollten nicht noch mehr Warnsignale abwarten.
Was meinen Sie damit?
Wir müssen endlich verstehen, dass diejenigen, die unseren demokratischen Lebensstil bedrohen, die Oberhand gewinnen werden, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Einige sehen immer noch nicht die Gemeinsamkeiten zwischen Putin und dem "Islamischen Staat", ihre destruktiven Absichten. Diktatoren und Terroristen wollen nichts aufbauen. Sie brauchen Feinde, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Deswegen werden sie sich immer neue Feinde schaffen.
Was ist Ihre Meinung über den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und dessen Regierungschef Arsenij Jazenjuk? Sind beide Vertreter Ihrer Meinung nach echte Demokraten?
Nun, ich weiß nur, dass sie vom ukrainischen Volk gewählt wurden. Und ich war in der Ukraine, deswegen weiß ich, dass diese Wahlen frei und fair waren. Und weil die Ukraine eine offene Gesellschaft ist, hört man über beide auch viel Kritik. Ich schließe nicht aus, dass beide Politiker noch Leichen aus der Vergangenheit im Keller haben. Ich weiß, dass viele - vor allem junge - Menschen mit dieser Regierung unglücklich sind. Ich weiß aber auch, dass sie die Chance haben werden, diese Regierung friedlich wieder abzuwählen.
Für wie wichtig halten Sie finanzielle Hilfe für Kiew?
Die Ukraine finanziell zu unterstützen ist keine einfache Entscheidung und fällt einigen bestimmt schwer. Aber wenn dieser Konflikt, Gott bewahre, über die Grenzen der Ukraine schwappt, dann wird der Preis zehn Mal höher sein und politische Konsequenzen mit sich bringen, die niemand vorhersagen kann.
Garri Kasparow, geb. 1963, zählt zu den schärfsten Kritikern Wladimir Putins. Bis zu seiner Flucht 2013 engagierte sich der Schachweltmeister gemeinsam mit dem ermordeten Boris Nemzow in Russlands liberaler Opposition und organisierte 2011/12 Massendemos. Es folgten Drohungen und Verhaftungen. Er betreibt die Website www.kasparov.com.