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Der Präsident "made Russia great again". Die Causa Sergej Skripal passt nicht so recht ins Bild.
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Die Rückkehr Russlands auf die Weltbühne war in den vergangenen Jahren unübersehbar, und sie ist eindeutig verbunden mit dem Namen Wladimir Putin: von der "Heimholung" der Krim über die erfolgreiche Unterstützung von Separatisten bei der von Moskau mitverursachten Krise in der Ukraine bis zur Kriegsbeteiligung in Syrien unter anderem mit dem Ergebnis, dass Russland seine Militärstützpunkte weiter ausbauen kann. Kurzum: Putin "made Russia great again".
Speziell das Vorgehen der russischen Führung in der Ukraine und im Nahen Osten ließ den Westen konfus und hilflos aussehen. Und inzwischen gibt es bereits weitergehende Absprachen über Einflusszonen in Syrien mit dem Nato-Mitglied Türkei sowie die Vorstellung neuer, global einsetzbarer Waffensysteme. Innenpolitisch dagegen stand und steht Putin nach wie vor für die Überwindung des Chaos der Ära von Boris Jelzin, für Ruhe und Ordnung sowie für einen partiellen Wirtschaftsaufschwung, der sich auch für die Mittelschichten bemerkbar gemacht hat. Die Sanktionen westlicher Länder, das niedrige Niveau der Ölpreise, die Korruption und eine insgesamt von ökonomischer Stagnation gekennzeichnete Entwicklung setzen dem Land zwar zu, aber die Krise konnte zumindest teilweise kompensiert werden. Und zur mentalen Integration dient vor allem ein massiver antiwestlicher Nationalismus.
Putins "realistische" Weltsicht
Nicht zuletzt steht Putin innenpolitisch für Stabilität. Das ist ein Wert, der laut Umfragen des Carnegie Moscow Center und des Levada Center nicht nur für die älteren, sondern auch für die meisten jungen Russen sehr bedeutend ist. Für die meisten ist die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen prioritär, nicht jedoch der "regime change". Daran ändert auch die vor allem in der Jugend zunehmende Unzufriedenheit mit der Einschränkung von Liberalität und Offenheit wenig. Zudem gab es bei der jüngsten Präsidentenwahl keine ernstzunehmende Konkurrenz. Der einzige potenzielle Herausforderer - Alexej Nawalny, in seinem Nationalismus eher noch rechts vom Präsidenten - wurde wegen einer politisch umstrittenen Verurteilung nicht als Kandidat zugelassen.
Der Westen hat sich also auch in der vierten Amtszeit Putins auf einen großen außenpolitischen Macht- und Gestaltungswillen im Kreml einzustellen. Dieser geht einher mit einer ausgesprochen "realistischen" Weltsicht: In einer Welt der Anarchie, so die Grundannahme, in der Akteure um Einfluss und Macht ringen und dafür ökonomische, politische und militärische Ressourcen einsetzen, überlebt nur, wer sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln an dieser Auseinandersetzung erfolgreich beteiligt. Internationales Recht, regelkonformes Verhalten und internationale Organisationen werden vor allem auf ihre Instrumentalisierbarkeit hin betrachtet. In diesem Denkschema fühlt sich der Kreml bestätigt; die Krim, Syrien und die wiederbelebte Angst des Westens vor Russland werden als Erfolge verbucht.
Putin folgt hier einem sich seit 20 Jahren verstärkenden weltpolitischen Trend der Unilateralisierung und Militarisierung von Außenpolitik sowie der Abkehr von Völkerrecht und kooperativen Institutionen. Lange bevor Russland die Krim annektierte und in Syrien intervenierte, führten westliche Staaten Kriege gegen Serbien, Afghanistan, den Irak und Libyen und unterstützten in Syrien massiv islamistische Bürgerkriegsparteien - alles unilateral oder in "Koalitionen der (Kriegs-)Willigen" und somit völkerrechtswidrig. Allein Frankreich hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten an die 30 Mal in Afrika militärisch interveniert - oftmals ohne Mandat der Vereinten Nationen. Verhaftet in "realistischen" Denkschablonen, setzte Washington alles daran, auch die Ukraine in die Nato zu bekommen - völlig unnötig und kontraproduktiv unter dem Gesichtspunkt kooperativer sicherheitspolitischer und militärischer Beziehungen auf dem eurasischen Kontinent.
Giftanschlag ohne klares Motiv
Der Nervengiftanschlag auf den russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julija in Südengland Anfang März 2018 und die darauffolgenden Reaktionen sind der vorläufige Tiefpunkt des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen. Die Rhetorik eskaliert seither in einer Weise, die an die kältesten Zeiten des Kalten Krieges erinnert. De facto sprach die britische Premierministerin von einem russischen Kriegsakt gegen Großbritannien, mit dem sie die Ausweisung von 23 russischen Diplomaten begründete (weitere 15 EU-Staaten, die USA und Australien folgten), die der Kreml umgehend mit der Ausweisung von 23 britischen Diplomaten beantwortete.
Natürlich ist nicht auszuschließen, dass der Kreml einen ehemaligen (oder vielleicht sogar bis zum Anschlag für beide Seiten arbeitenden?) Doppelagenten beseitigen wollte. Umso mehr, als die Duma vor zwei Jahren ein Gesetz beschlossen hat, das die Liquidierung von Überläufern und Verrätern auch im Ausland legalisiert (was übrigens an etliche Fatwas in islamischen Staaten erinnert).
Die Logik spricht aber nicht gerade dafür. Abgesehen von der schlechten Stimmung, die dadurch international vor der Fußball-WM in Russland erzeugt wird: Welches Interesse kann der Kreml haben, dass eventuell vorhandenen Kapazitäten an verbotenen militärischen Kampfstoffen international zu großer Publizität verholfen wird? Russland würde dadurch zu einem Paria, der die gesamte internationale Öffentlichkeit gegen sich hätte. Und selbst wenn der Kreml, warum auch immer, Skripal umbringen wollte: Warum wurde dieser nicht erschlagen, erstochen, erschossen, in einen fingierten Autounfall verwickelt oder einfach entführt und nicht mehr aufgefunden?
Angenommen, der Kreml wollte ein Exempel statuieren und hat eine Kampagne gestartet, um potenzielle Überläufer einzuschüchtern: Verstehen die Adressaten das erst, wenn Skripal und seine Tochter mit einem verbotenen Gift ausgeschaltet werden? Oder wollte Putin - westliche Reaktionen legen solche Gedanken nahe - mit dem Anschlag gerade zeigen oder sogar damit drohen, dass man über chemische Waffen verfüge, die in der Lage wären, heimtückisch und ganz ohne "klassische" militärische Mittel x-beliebige Teile der Bevölkerung eines westlichen Landes zu vernichten? Das würde Putin und den Kreml umso mehr zum Feind der Sonderklasse stempeln, der aufgrund vorhandener Technologie und zur Verfügung stehender Ressourcen nicht nur erheblich gefährlicher wäre als Nordkorea, sondern moralisch noch weit unter Nordkoreas im Westen tendenziell als "irren Raketenmann" charakterisiertem Machthaber Kim Jong-un stünde. Der russischen Politik, Diplomatie, Wirtschaft und dem Versuch, über den Fernsehsender "RT" und andere Medien die westliche und internationale Öffentlichkeit für sich einzunehmen, wäre damit nicht gerade gedient.
Ablenkung von EU-Problemen?
Auch innenpolitisch bestand wenig Handlungsbedarf für eine derartige Aktion kurz vor der Präsidentenwahl, die der russischen Öffentlichkeit durch die staatlich gelenkten Medien eine sowieso verbreitete Ansicht bestätigt: dass das Land vom Westen schlechtgemacht und alles unternommen werde, um Russland seinen berechtigten Platz in der internationalen Arena streitig zu machen. Ein solcher Giftgasanschlag dürfte auch von den Russen als eher unappetitlich oder furchterregend wahrgenommen werden.
Geht es also bei der politischen Aufbereitung des Vorfalls um ein neues, aggressiveres "containment" gegen den Kreml? Wird die Causa ausgeschlachtet, um - wie Außenminister Sergej Lawrow vermutete - den Brexit-Schwierigkeiten mit einem vehementeren Feindbild zu begegnen? Wird jetzt die Gunst der Stunde für eine Demonstration westlicher Geschlossenheit genutzt, nachdem durch Donald Trumps US-Wahlsieg und seine desaströse Allianzpolitik inklusive Relativierung der Nato, den Brexit und die Spaltung der EU infolge der Flüchtlingsproblematik das Bild tiefer Zerrissenheit entstanden ist und das Zutrauen in die Fähigkeit von EU und Nato, die bestehenden Krisen zu bewältigen, immer mehr gelitten hat? Sind die simultanen Reaktionen Angela Merkels und Emmanuel Macrons der Versuch, die aggressive Strategie Moskaus zu kontern, die auf eine Schwächung und Fragmentierung der EU abzielt und darauf, nationalistischen, antieuropäischen Kräften zum Durchbruch zu verhelfen?
Verselbständigte Geheimdienste
Prinzipiell sind dem britischen, französischen und US-Geheimdienst nicht weniger perfide Methoden zuzutrauen als dem russischen. Nötig haben sie es allerdings angesichts dessen, was der Kreml in den vergangenen Jahren außen- und innenpolitisch veranstaltet hat, auch nicht. Und es gibt genügend aktuelles Material: Ost-Ghouta ist zwar weiter weg als Salisbury, aber die Bilder von verstümmelten Kindern und zerstörten Spitälern bringen genügend negative Images in die westlichen Wohnzimmer, die den Kreml als Unterstützer einer menschenverachtenden Vernichtungskampagne charakterisieren können.
Auszuschließen ist freilich nicht, dass russische Geheimdienstmitarbeiter auf eigene Faust mit Skripal abrechneten und die Wahl der Methoden sich mit ihrer Sensibilität in Bezug auf den Ruf ihres Landes deckt. Das Problem der Verselbständigung von Geheimdiensten oder von Teilen derselben und ihrer Kooperation mit der Mafia ist nicht nur ein russisches Problem, dort aber besonders evident. In den vergangenen Jahren gab es in den USA und in Großbritannien ein Dutzend mysteriöser Todesfälle aus Oligarchen- und Geheimdienstkreisen.
In welcher Form und mit welcher Intensität die Aufbereitung des Falls Skripal erfolgt, ist jedenfalls ein Indikator für den zerrütteten Zustand im russisch-westlichen Verhältnis im Besonderen und in den internationalen Beziehungen im Allgemeinen. Die Inszenierung passt jedenfalls in das Schema dessen, was sich seit Beginn der 2000er Jahre an fataler Destruktion kooperativer Beziehungen und der Rekonstruktion von Feindbildern abspielt - samt ihrer Instrumentalisierung für je eigene Interessen und Motive. Ohne eine grundsätzliche Umkehr an dieser Stelle dürfte der Fall Skripal nur der Vorschein noch gefährlicherer Krisen sein. Die Einrichtung einer internationalen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Affäre unter Einschluss russischer Experten (auf Basis der OPCW, der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen) wäre ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.
August Pradetto ist Professur für auswärtige und internationale Politik osteuropäischer Staaten an der Helmut Schmidt Universität in Hamburg sowie an der Beijing Foreign Studies University in Peking tätig.
Eine Langfassung seines Gastkommentars finden Sie in der aktuellen April-Ausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik" (April 2018)