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"Putin hat Angriff im Alleingang entschieden"

Von Gerhard Lechner

Politik

Russland-Experte Alexander Dubowy sieht beim Kreml-Chef einen Wandel vom trockenen Machtzyniker zum geschichtsversessenen Ideologen. Das habe auch damit zu tun, dass dieser sich zusehends isoliere.


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"Wiener Zeitung": Warum hat Russlands Präsident Wladimir Putin den Befehl zu einer Offensive gegeben, die die Bande zwischen Russen und Ukrainern zerschneiden muss? Haben Sie eine Erklärung, was in seinem Kopf vorgeht?

Alexander Dubowy: Da muss man ausholen. Putin und seine Umgebung entstammen in etwa der gleichen Generation. Es ist eine Generation, die, als die Sowjetunion zerfiel, bereits im Umfeld der Macht war, aber noch nicht an den Schalthebeln saß. Und die es bereut, damals nichts unternommen zu haben, um den Zerfall des Landes zu verhindern.

Das Sowjet-Trauma . . .

Ja. Heute haben diese Leute Angst, dass sich das damalige Trauma wiederholen könnte. Die Angst, Russland könnte zerfallen, ist stark. Und man möchte diesen Zerfall um jeden Preis verhindern. Deshalb sind sich die außen- und sicherheitspolitischen Eliten in Moskau auch einig, dass die größte Bedrohung Russlands von staatlicher Instabilität ausgeht. Man fürchtet sich vor Farbrevolutionen, die - in der Sicht der russischen Eliten - von außen gesteuert werden, vom Westen, von den USA. Die russische Führung glaubt, dass die USA spätestens seit Beginn der Nullerjahre diese Politik verfolgen, um Russland zu schaden. Sie führen die Rosenrevolution in Georgien, die Orange Revolution in der Ukraine und - natürlich - den Euromaidan in Kiew 2014 als Beispiel an. Das Zentrale ist, dass Russland dabei immer glaubt, der äußere Einfluss sei für das Gelingen dieser Revolutionen entscheidend gewesen. Und die inneren Gründe seien vernachlässigbar. Jede innere Bewegung wird automatisch so interpretiert, als ob sie von außen finanziert und gesteuert worden ist.

Das entspricht eigentlich dem, was heute viele Kampfposter in sozialen Medien von sich geben: Hinter jedem Ereignis wird sofort ein Strippenzieher vermutet, dessen Macht so groß ist, dass er alles steuern kann.

Ja, genau. In Russland wendet man dieses Bild aber nicht nur auf die Gegenwart an, sondern auch auf die Vergangenheit. So wird etwa die Russische Revolution in erster Linie äußerem Einfluss zugeschrieben, es wird gesagt, Deutschland und die USA hätten die Revolte finanziert.

Jetzt könnte man sagen: Das ist ja nicht ganz falsch. Revolutionsführer Wladimir Lenin wurde ja auch vom deutschen Kaiserreich im plombierten Waggon nach Petersburg geschickt.

Richtig. Dennoch ist das Bild, das in Russlands Elite vorherrscht, ahistorisch. Als Lenin ankam, hat es ja bereits eine Revolution gegeben. Lenin schrieb ja selbst, dass die Staatsmacht am Boden lag und man sie nur aufheben musste. Entscheidend war also auch damals das, was im Inneren Russlands vorging. Diese inneren Faktoren werden von den russischen Eliten stiefmütterlich behandelt und übersehen. Sie zählen aus Sicht des Kremls nicht, sie sind unwichtig. Es besteht keine Notwendigkeit, sich damit auseinanderzusetzen. Das ist der Grund, warum Russland nicht wirklich versteht, wie die Gesellschaften in den umliegenden Staaten funktionieren. Das ist der Grund, warum die russische Armee jetzt so große Probleme hat. Das Einzige, was Putin wichtig ist, ist der Einfluss auf die Staatsspitze. Russland glaubt, wenn man Kiew einnimmt, wenn man die Regierung ausschaltet, dann wird das ganze Land sich sofort Russland anschließen.

Das ist, wenn man die Ukraine kennt, eine reichlich absurde Vorstellung.

Ja, das hat mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun. Aber Putin hat diese Entscheidung getroffen, und es hat ihn offenbar niemand davon abbringen können.

Warum eigentlich? Trifft Putin seine Entscheidungen allein?

Früher nicht. Er hat seine Entscheidungen immer im kleinen Kreis, aber nie allein getroffen. Die Annexion der Krim hat er noch gemeinsam mit seinen Beratern besprochen und im Konsens gefällt. Diese Entscheidungen sind noch rational getroffen worden. Mit rational meine ich nicht vernünftig oder gut, sondern durchdacht. Man hat abgewogen, was dafür und was gegen die Entscheidung spricht, und kam zu dem Schluss, dass die Pluspunkte überwiegen. Die aktuelle Entscheidung ist dagegen völlig irrational. Sie ist nicht durchdacht. Die Minuspunkte überwiegen klar. Die Risiken, die dieser Krieg mit sich bringt, sind absolut unkontrollierbar. Die ukrainische Armee des Jahres 2022 ist eine andere als 2014.

Warum hat Putin dann diese Entscheidung getroffen? War das ein Alleingang?

Offenbar ja. Nach allem, was so nach außen dringt, hätten sich die Eliten allenfalls auf die Anerkennung der Donbass-Republiken oder den Einmarsch dort, schlimmstenfalls auf eine begrenzte Militäroperation im Donbass einigen können. Putin hat sich aber dennoch zu einem Großangriff entschlossen. Warum, ist schwer zu sagen. Es gibt Berichte, wonach Putin sich in den vergangenen zwei Jahren sehr stark verändert hat. Seit Beginn der Pandemie ist er stark isoliert und hat nur noch Kontakt zu wenigen Menschen. Er hat sich in dieser Zeit in Geschichtsstudien vertieft, deren Schwerpunkt das Verhältnis Russlands zur Ukraine ist. Er hat im vergangenen Sommer auch einen Traktat zum Thema verfasst, sieht die Ukraine als von Lenin geschaffenes Kunstprodukt an. Dieses historische Bild, das er da vor Augen hat, nimmt ihn emotional so stark mit, dass er, was die Ukraine betrifft, keine rationale Entscheidung mehr treffen kann. Jede Gegenreaktion, jede Widerrede löst bei ihm Aggressionen aus. Weil aus seiner Sicht sein Handeln vollkommen legitim und historisch begründet ist.

Das ist eine erstaunliche Wandlung. Schließlich hat man Putin im Westen jahrzehntelang als knochentrockenen, eiskalten, zynischen, aber ideologiebefreiten und ultrarationalen Machtpolitiker gesehen. Jetzt kommt ein anderer Putin zum Vorschein, einer mit einem ideologischen Sendungsbewusstsein.

Ja. Das ist auch der Grund, warum wirklich niemand diese Invasion vorhersagen konnte. Die ganze Expertengemeinde ist davon ausgegangen, dass sie ihren Putin kennt und dass ein solcher Schritt absolut unvorstellbar ist. Deshalb hat den Berichten der US-Geheimdienste auch niemand geglaubt. Weil dieser Krieg so dermaßen irrational und wider die Interessen Russlands ist. Putin hat das im Alleingang entschieden. Er will offenbar als Schöpfer eines neuen Russischen Reiches in die Geschichte eingehen, als "Sammler der russischen Erde", wie es in russischer Tradition heißt. Die Nato-Erweiterung ist nicht das Hauptproblem. Es geht nicht um Sicherheitspolitik.

Aber darum, die Westintegration der Ukraine zu verhindern, oder?

Ja. Mit der Westintegration droht Russland die Ukraine aus dem eigenen Orbit zu verlieren. Bereits jetzt gibt es eine heranwachsende Generation von Ukrainern, die mit Russland nichts anfangen können oder wollen. Das ist für Putin das eigentliche Problem, auch wenn man an die Sprachenfrage in der Ukraine denkt. Putin stört nicht, dass die russische Sprache in der Ukraine benachteiligt wird, wie immer geklagt wird. Ihn treibt die Sorge um, dass das Russische mit der Zeit komplett an Bedeutung verliert, sodass Russland die Ukraine endgültig aus seinem Orbit entgleiten sieht und nicht mehr zurückholen kann. Verbunden mit der tatsächlichen militärischen Aufrüstung der Ukraine war das wohl der Grund, warum Putin diese Entscheidung so radikal getroffen hat. Er will mit einem schnellen Schnitt Kiew in den russischen Orbit zurückholen - jetzt, sofort, ehe es zu spät ist. Deshalb will er auch die Regierung stürzen. Er braucht eine prorussische, kontrollierbare Regierung in Kiew.

Alexander Dubowy ist Forscher im Bereich Internationaler Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und den GUS-Raum. privat

Aber wie will er das erreichen? Mit Bomben und Marschflugkörpern?

Ja, das ist irrsinnig und eben auch machtpolitisch völlig irrational. Es ist ein Bruch mit der bisherigen russischen Politik, die ideologiefrei war - hart, interessengeleitet, manchmal zynisch, aber ideologiefrei. Jetzt kippt dieser pragmatische, nachvollziehbare, logische, in sich geschlossene, rationale Politikansatz . . .

. . . ins "Idealistische", gewissermaßen.

Ja, ins Idealistische und Ideologische. Es geht jetzt nicht mehr um Interessen, sondern um irgendwelche Träumereien vom Russischen Reich. Und das ist wirklich gefährlich, weil Putin damit auch den russischen Interessen massiv schadet und Russland zu einem Schurkenstaat macht. Das wird auf Jahrzehnte nachwirken.

Gibt’s dagegen Widerstand innerhalb der russischen Eliten?

Offenbar ja. Nikolaj Patruschew, der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, soll sich etwa gegen die Invasion und auch die Anerkennung der Donbass-Republiken gestellt und sich für weitere Verhandlungen mit dem Westen ausgesprochen haben. Auch einige Oligarchen äußern Unmut. Diese Leute wollen eine nachvollziehbare Außenpolitik, getrieben von Interessen. Die totale internationale Isolation, in die Russland jetzt rutscht, passt ihnen nicht.

Kann dieser Widerstand für Putin gefährlich werden?

Bis jetzt hat Putin dafür gesorgt, dass er als Schiedsrichter zwischen den rivalisierenden Machtgruppen eine unangreifbare Stellung hat. Jetzt aber ändert sich die Lage, alles ist im Fluss, viele sind unzufrieden. Aber eine Palastrevolte braucht Zeit, und die hat man jetzt nicht. Außerdem lässt Putin niemanden an sich heran.

Wegen Corona?

Er hat anscheinend extreme Angst vor Ansteckung, ja, es könnte aber auch andere Gründe haben. Jedenfalls steht Putin jetzt mit dem Rücken zur Wand. Er hat mit einem wesentlich leichteren Vorankommen in der Ukraine gerechnet. Jetzt wird er wohl schwere Waffen einsetzen lassen und damit eine weitere Grenze überschreiten. Russland wird dann endgültig zum Schurkenstaat - und Putin von einem rationalen Autokraten zu einem irrationalen Diktator.