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"Putin ist die wichtigsten Reformen schuldig geblieben"

Von WZ-Korrespondent Christian Weisflog

Europaarchiv

Ökonom sieht Putins Erbe gescheitert. | Versäumnisse auf allen Ebenen. | "Wiener Zeitung": Sie sagten einmal: "Was heute mit unserem Staat passiert, ist der direkte Weg zum Zerfall." Das widerspricht der offiziellen Rhetorik, dass Russland heute wirtschaftlich und politisch wieder erstarkt ist.


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Ewgenij Gontmacher: Putins achtjährige Herrschaft kann in zwei Perioden aufgeteilt werden: Bis zur Verhaftung des Ölmagnaten Michail Chodorkowskij 2003 und danach. Davor gab es durchaus Reformen und bemerkenswerte wirtschaftliche Fortschritte. Bereits 2004 war jedoch klar, dass diese Entwicklung nur durch weitere Reformen fortgeführt werden konnte. Aber Putin übernahm die Verantwortung dafür nicht, denn Reformen sind unpopulär. Mit den steigenden Energiepreisen schwand zudem die Notwendigkeit dafür, das Geld war ja da. Heute ist deshalb nur ein Drittel der russischen Wirtschaft wirklich konkurrenzfähig.

Putin und Medwedew haben versprochen, das Land zu modernisieren. Welches wären die größten Herausforderungen?

In erster Linie sollten die Unternehmer mehr Freiheit erhalten. Seit dem Fall Chodorkowski haben sie Angst. Medwedew muss die Wirtschaftsvertreter als Partner und nicht als Untergebene behandeln. Nur eine freie Marktwirtschaft ist konkurrenzfähig und innovativ. Aber die kleinen und mittleren Unternehmen in Russland leiden unter einer kolossalen staatlichen Korruption.

Das zweite sind die sozialen Herausforderungen. Nur die Hälfte der Männer erreicht das 60. Lebensjahr. Die Mehrheit der Bevölkerung hat keinen Zugang zu Gesundheitsleistungen. Wegen des schlechten Bildungssystems fehlen qualifizierte Arbeitskräfte. Wenn wir in diesen zwei Bereichen keine radikalen Reformen vornehmen, bleibt uns nur die Rolle des Rohstoffanhängsels. In zwei bis drei Jahren werden wir mehr importieren als exportieren. Wir sind nicht einmal in der Lage, elementare Güter zu produzieren. Im Supermarkt kaufe ich Karotten aus Israel und Knoblauch aus China.

Eine Mehrheit der Russen ist aber mit Putins Politik zufrieden . . .

Meiner Meinung nach hat sich die Stimmung in der Bevölkerung in den vergangenen zwei Jahren verschlechtert. Eine große Rolle spielt dabei die Inflation. Die steigenden Preise nähren im Kopf der Leute die Vermutung, dass die ganze Rede von der neu gewonnenen Stabilität nur heiße Luft sein könnte. Gleichzeitig wächst die Schere zwischen Arm und Reich. Wann dies zu offenen Protesten führt, ist schwer zu sagen. Aber das Jahr 2008 ist eine Bruchstelle. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo man etwas tun muss.

Aber warum sollte Putin als Premierminister Reformen vornehmen, die er als Präsident gescheut hat? Wird er als einflussreicher Regierungschef für die bestehende Machtelite nicht vielmehr den Garanten des Status quo spielen?

Nein. Hätte Putin sich ganz zurückgezogen, wäre unsere Elite auseinander gebrochen. So aber kann der scheidende Kremlchef seinen Nachfolger Medwedew schützen. Der braucht Zeit, um ein starker Präsident zu werden, um seine Mannschaft zu bilden. Gegner gibt es, und es besteht die Gefahr, dass sie Medwedew, der liberal und pro-europäisch ist, schwächen könnten.

Sind Putin und Medwedew beide letztlich nicht allzu sehr Teil des bürokratischen Systems, als dass sie es selbst reformieren können?

Die Risiken sind sehr groß. Die Chancen auf einen wirklichen Reformkurs liegen lediglich bei zehn Prozent. Denn ohne einen ernsthaften Kampf gegen die Korruption innerhalb des Staatsapparates sind keine Veränderungen möglich. Die reformfeindliche Koalition in der Bürokratie ist sehr stark.

Sie haben die Causa Chodorkowskij als Schlüsselereignis bezeichnet. Ist ein Richtungswechsel überhaupt möglich ohne eine neue Überprüfung des Falles?

Es ist sicherlich eines dieser Elemente, an denen in Kürze zu erkennen sein wird, in welche Richtung es geht. Chodorkowskij ist ein Symbol. Mit einer Freilassung kann nicht gerechnet werden. Das Verhältnis zwischen Putin und Chodorkowskij ist äußerst schwierig. Aber das zweite Strafverfahren, das nun im Gange ist und Chodorkowskij auf lange Zeit hinter Gitter bringen könnte, ist absurd. Sollte es dazu kommen, waren all unsere Hoffnungen sinnlos.