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Putin redet vom Frieden, doch Tschetschenien bleibt ein Pulverfass

Von Herwig Schinnerl

Analysen

Wenn Präsident Wladimir Putin in zehn Tagen nach Österreich kommt, wird er auch hier die Mär vom neuen Frieden in Tschetschenien erzählen. Die Lage in Russlands widerspenstiger Kaukasus-Republik hat sich zweifellos in den letzten Monaten stabilisiert. Von Normalität kann aber nicht die Rede sein. Zwar geht der Wiederaufbau zügig voran, das Geld dafür wird allerdings der Bevölkerung weggenommen. Menschenrechtler sprechen von mafiösen Strukturen - Schutzgeldzahlungen von Betrieben und Erpressung der Zivilbevölkerung inbegriffen.


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An der Spitze der Republik steht seit März offiziell Ramsan Kadyrow, den Putin zum Präsidenten machte. Putin setzte schon einmal auf die Familie Kadyrow und ihren Clan, als er Ramsans Vater Achmed, der 2004 ermordet wurde, ins Präsidentenamt verhalf. Schon damals kommandierte Ramsan die Privatarmee seines Vaters - einige tausend Männer, die von Menschenrechten reichlich wenig halten. Die Gräueltaten dieser "Kadyrowtsi" - Folterungen, Verschleppungen, Vergewaltigungen und Morde - erinnern an jene der russischen Armee. Rechtliche Folgen haben die Verantwortlichen nicht zu befüchten.

Das Problem der Straffreiheit zieht sich durch den Tschetschenien-Konflikt, der 1991 mit der einseitigen Sezession Tschetscheniens begann und 1994 sowie 1999 zum Einmarsch russischer Truppen führte. Solange die Menschenrechtsverletzungen straffrei bleiben - egal ob von russischen Soldaten, tschetschenischen Sezessionisten oder "Kadyrowtsi" begangen -, solange wird sich die Lage für die traumatisierte Zivilbevölkerung nicht grundlegend verbessern. Solange sich Betroffene, die gefoltert wurden oder deren Verwandte verschwunden sind, nicht trauen, den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof einzuschalten, weil sie erneute Repressionen zu befürchten haben, solange ist man in Tschetschenien von einem menschenwürdigen Leben weit entfernt.

Der Kreml pumpt Millionen von Rubel an Wirtschaftshilfe in die Kaukasusrepublik, von denen ein Gutteil im Korruptionssumpf verschwindet; die russischen Truppen werden kontinuierlich abgezogen und die Kontrolle den tschetschenischen Einheiten überlassen. Letztere Maßnahme könnte ja durchaus als positive Entwicklung gesehen werden, Experten sind allerdings skeptisch: Was passiert nach der Präsidentenwahl 2008? Mit Putin hat sich Kadyrow arrangiert, davon abgesehen hat er in Moskaus Regierungskreisen aber wenige Freunde. Für viele stellt der 30-Jährige einen unberechenbaren Faktor im künftigen nordkaukasischen Machtgefüge dar.

Tatsache ist, dass die Region aufgrund ihrer multiethnischen Zusammensetzung ein fragiles Fundament aufweist. Was nach Putin kommt, weiß niemand. Man darf hoffen, dass der von Experten befürchtete Funke, der einen erneuten Flächenbrand auslösen würde, nicht entzündet wird.