Die beiden Staatschefs wollen eine weitere Eskalation in der syrischen Rebellenhochburg Idlib vermeiden.
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Als Recep Tayyip Erdogan im Oktober 2019 seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin im palmengesäumten Schwarzmeerbadeort Sotschi besucht, begegnet man sich durchaus auf Augenhöhe. Der türkische Staatschef hatte mit seinem Vorstoß in die kurdisch kontrollierten Gebiete Nordsyriens alle Warnungen des Westens in den Wind geschlagen und mit Artillerie und Panzern Fakten geschaffen. Putin hatte bereits zuvor die Früchte seines beharrlichen Engagements im Bürgerkriegsland geerntet. Mit Hilfe der russischen Schutzmacht haben die Truppen von Machthaber Bashar al-Assad nicht nur die letzten verbliebenen Rebellen in der Provinz Idlib eingekesselt. Mit dem Abzug der Amerikaner ist Russland auch als einziger überregionaler Machtfaktor in Syrien übrig geblieben.
Entsprechend sah auch das Ergebnis des Treffens in Sotschi aus. Putin und Erdogan einigten sich trotz teilweise konträrer Interesse mehr oder weniger im Alleingang über die unmittelbare Zukunft Syriens: Die Türkei bekommt die von ihr angestrebte "Schutzzone" in einem 400 Kilometer breiten und 30 Kilometer tiefen Streifen entlang der Grenze, Russland kann im Gegenzug seinen Einfluss noch weiter nach Norden und Osten ausdehnen.
Einigung auf Waffenruhe
Knapp fünf Monate später haben sich Erdogan und Putin an diesem Donnerstag nun erneut getroffen. Doch die Zusammenkunft in Moskau findet unter gänzlich anderen Vorzeichen statt als jene in Sotschi. Diesmal ist Erdogan nämlich nicht als entschlossener und erfolgreicher Kriegsherr gekommen, sondern als mit dem Rücken zur Wand stehender Staatschef, der auf die Vereinbarung eines Waffenstillstands hoffte.
Offenbar haben sich die beiden Staatschefs nach einem dreistündigen Gespräch am Donnerstagabend einigen können. Um Mitternacht in der Nacht auf Freitag soll eine neue Waffenruhe im syrischen Idlib in Kraft treten, sagte Erdogan nach dem Treffen. Die Türkei und Russland würden sich dafür einsetzen, dass die Waffenruhe auch halte und dass Hilfsgüter an Syrer in Not gelangen könnten, hieß es weiter. Die Türkei behalte sich das Recht vor, gegen Angriffe syrischer Regierungstruppen zurückzuschlagen.
Putin sagte, er hoffe, dass eine "gute Basis" gefunden worden sei "für ein Ende der militärischen Aktivitäten in der Idlib-Deeskalationszone und des Leids der friedlichen Bevölkerung sowie der wachsenden humanitären Krise".
In Idlib hat sich die Situation in den vergangenen Wochen fast täglich weiter zugespitzt, nachdem das einen finalen Sieg anstrebende syrische Militär dort immer weiter vorrückt und dabei nicht nur die islamistischen Aufständischen ins Visier nimmt, sondern auch die auf ihrer Seite stehenden türkischen Truppen. Zuletzt kamen allein innerhalb einer Woche 37 türkischen Soldaten in der umkämpften Rebellenprovinz ums Leben.
Entgegenzusetzen hat Erdogan den syrischen Angriffen außer verbalen Drohungen und einigen Vergeltungsschlägen nicht viel. Denn durch die russische Lufthoheit, die Putin bei fast jeder Gelegenheit demonstrieren lässt, sind die militärischen Optionen der Türkei in den allermeisten Fällen beschränkt. Erdogan habe einsehen müssen, dass seine Politik der maximalen Austestung von Grenzen mit Russland nicht funktioniere, sagt Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) in Berlin, gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. "Ich denke, er hat sich in eine ausweglose Situation manövriert."
In einer ähnlichen Lage hat sich Erdogan auch schon im Jahr 2015 befunden. Nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs durch die türkische Luftwaffe an der Grenze zu Syrien schien das Verhältnis von Putin und Erdogan damals unwiederbringlich beschädigt: Der türkische Präsident warf dem Kreml "Kriegsverbrechen" in Syrien vor, Putin wiederum beschuldigte Erdogan, den Dschihadisten im Nachbarland ihr Öl abzukaufen.
Kostspieliger Syrien-Einsatz
Auch damals wurde allerdings relativ rasch absehbar, dass Putin gegenüber dem türkischen Staatschef auf dem längeren Ast sitzt. Russland verhängte als Reaktion auf den Abschuss schmerzliche Wirtschaftsanktionen und in den Ferienorten an der türkischen Rivera blieben die wichtigen russischen Gäste mit einem Schlag aus. Schließlich entschuldigte sich Erdogan höchstpersönlich bei Putin für den Abschuss des russischen Kampfjets und sprach der Familie des getöteten Piloten sein "tiefstes Beileid" aus.
Doch nicht nur die Türkei, die fürchtet, dass die 900.000 Flüchtlinge in Idlib über ihre Südgrenze ins Land strömen, hat in der aktuellen Situation Interesse daran, jede weitere Eskalation zu verhindern. Eine Feuerpause kommt auch Putin gelegen. Denn bereits seit längerem ist deutlich geworden, dass der Kreml-Chef sein "Syrien-Projekt" möglichst bald beenden will. Angesichts der Wirtschaftskrise in Russland gibt es russischen Medien zufolge nämlich kaum noch Verständnis in der Bevölkerung für die Militärpräsenz in Syrien. Im russischen Militärhaushalt spiegelt sich das bereits wider. Laut der "Nesawissimaja Gaseta" ist das aktuelle Verteidigungsbudget das "bescheidenste seit zehn Jahren".