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Putins Debakel

Von Thomas Seifert

Leitartikel

Die Ukraine hat die Schlacht gewonnen, doch der Krieg geht weiter.


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Der russischstämmige Anthropologe und Historiker Alexei Yurchak prägte in seinem im Jahr 2005 erschienen Buch "Everything Was Forever, Until it Was No More: The Last Soviet Generation" den Begriff der "Hypernormalisierung". Yurchak argumentiert in diesem Buch, dass in der Periode des "Spätsozialismus" in der Sowjetunion bereits jeder gewusst habe, dass das System der UdSSR dem Untergang geweiht sei, aber niemand eine Vorstellung von einem alternativen Status quo gehabt habe. Also habe die sowjetische Führung einfach so getan, als sei alles ganz normal, und die Bevölkerung habe bei dieser Sowjet-Scharade mitgespielt und so getan, als funktioniere die Gesellschaft ganz normal. Am Ende hätten alle den "Alles ganz normal"-Fake selbst geglaubt - Yurchak bezeichnete diesen Prozess als "Hypernormalisierung".

Wladimir Putins postsowjetisches Russland weist immer mehr Ähnlichkeiten zum untergehenden hypernormalisierten Sowjetreich auf. Während die russische Armee auf dem Schlachtfeld in der Ukraine rund um Charkiw vernichtend geschlagen wird, feiert Moskau am Samstag den 875. Jahrestag der Gründung der Stadt an der Moskwa mit einem opulenten Feuerwerk, Sportevents sowie Kunst- und Musikdarbietungen. Der Krieg in der Ukraine wird vom Kreml immer noch als "Spezialoperation" bezeichnet, doch je deutlicher klar wird, dass die Sache in der Ukraine nicht nach Plan läuft, umso mehr wird das Narrativ der "Spezialoperation" als Farce entlarvt. Und je größer die Verluste der russischen Armee offenbar werden, umso weniger verfängt das Märchen von Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin, dem genialen geopolitischen Schachspieler und gewitzten Feldherrn.

Werden die Mythen, auf denen Putins Macht ruht, entlarvt, dann erodiert auch Putins Autorität. "Zuerst schrittweise, dann ganz plötzlich" - Putin muss Sorge haben, dass Ernest Hemingways berühmtes Zitat aus dem Roman "Fiesta" eines Tages auch auf seinen Autoritätsverlust zutreffen könnte. Wie schnell das gehen kann, hat er auf seinem KGB-Posten in der DDR in Dresden in den Jahren 1989/1990 selbst erlebt: Schwupps, war die Mauer weg und bald auch die DDR.

Paradoxerweise müssen die Ukraine und der Westen einen geschwächten Putin aber leider ebenso fürchten: Die Gefahr einer dramatischen Eskalation von Luftschlägen gegen zivile Ziele in der Ukraine steigt ebenso wie jene eines russischen Nuklearschlags. Und auch ein Putsch gegen Putin birgt die Gefahr, dass noch radikalere Nationalisten und Militaristen die Macht in Moskau an sich reißen könnten. Die Ukraine hat die Schlacht gewonnen, doch der Krieg geht weiter.