Moskau · Der Hauptdarsteller im Moskauer Kreml-Theater hat ein neues Gesicht, aber hinter den Kulissen ziehen noch immer dieselben mächtigen Leute die Fäden. "Putin wird selbstständig denken | dürfen, aber sie werden ihm nicht erlauben, sich zu weit von den Wünschen der ,Familie` zu entfernen", analysiert Andrej Fjodorow, der Direktor der Stiftung für Politische Forschung.
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"Die Familie" · so nennen russische Politologen den Clan finanzkräftiger Geschäftsleute, die den kometenhaften Aufstieg Wladimir Putins vom stellvertretenden Bürgermeister in Sankt Petersburg zum
aussichtsreichen Jelzin-Erben protegierten. Und von ihm erwarten die Magnaten auch den uneingeschränkten Schutz ihrer Interessen. Zwar entließ Putin am Montag mit der Tochter des früheren Präsidenten
Boris Jelzin, Tatjana Djatschenko, das prominenteste Mitglied der "Familie". Doch eine Lösung aus dem Schoß des Clans sehen Experten darin noch nicht.
"Die Familie wird besser als finanz-politischer Clan beschrieben", sagt Fjodorow. "Das sind Leute, die ihre privaten Geschäftsimperien aufgebaut haben und das 'neue System' aus Politik und Wirtschaft
verkörpern. Sie haben nicht das Bedürfnis, Posten in der Regierung zu übernehmen, weil sie selbst an den Hebeln sitzen." Wichtige Entscheidungen werden sie jedenfalls auch künftig nicht aus der Hand
geben, meinen die Experten.
Schutzherr über wertvolle Pfründe
Wie die tatsächlichen Führungspolitiker Russlands rufen auch die Mitglieder der wohlhabenden "Familie" bei ärmeren Schichten Groll und Wut hervor. Das ist auch der Grund, warum sie lieber
außerhalb des Rampenlichts ihre Fäden ziehen. Schätzungen zufolge besitzt die "Familie" ein Vermögen von mehreren hundert Milliarden Schilling. Von dem eigens ausgewählten Schutzpatron Putin wird
erwartet, dass er alles tut, damit niemand ihre Pfründe antastet. "Er wird immer bedenken müssen, dass die "Familie" ihn an die Macht gebracht hat", sagt Fjodorow. "Wie jeder Politiker hat auch Putin
seine Leichen im Schrank, und die 'Familie' kennt sie."
Putin hat bereits bewiesen, dass er das Spiel verstanden hat. Er versprach Jelzin vor seinem Rücktritt einige Privilegien und garantierte ihm und seinen Familienangehörigen per Erlass
straffrechtliche Immunität. Etwas, was Jelzin angesichts der kolportierten dubiosen Geldwäsche-Geschäfte durchaus brauchen kann. Das Nachrichtenmagazin "Newsweek" hatte erst zu Wochenbeginn
berichtet, dass ein Dutzend eingefrorener Schweizer Bankkonten vermutlich in Verbindung zur einstigen Präsidentenfamilie stehen. Das Guthaben soll sich auf mehr als 15 Millionen Dollar (205 Mill.
Schilling) belaufen.
"Die Entscheidung für Jelzins Rücktritt und zur Machtübernahme von Putin wurde nicht im Interesse des Landes getroffen, sondern im Interesse der 'Familie'", meint ein russischer Politiker lakonisch.
Dieses Interesse konzentriert sich auf die monopolartige Kontrolle über bedeutende, den Reichtum Einzelner fördernde Wirtschaftssektoren in Russland: Versorgungsunternehmen, Medien, Erdöl und
Produktionsstätten. Diese sind nach Informationen von Experten in den Händen von gerade einmal 40 Leuten. Zu ihnen zählen der milliardenschwere Geschäftsmann Boris Berezowski, der Finanzier Roman
Abramowitsch sowie Ex-Finanzminister Anatoli Tschubais, der Putin vor zwei Jahren nach Moskau holte.
Harmlose Schachzüge
Trotz seines neuen Postens, den Putin nun parallel zu seinem Amt als Regierungschef ausübt, bleiben ihm bei der Auswahl seines neuen Kreml-Mitarbeiterstabes wenig Alternativen. Um nach außen
dennoch eine gewisse Eigenständigkeit zu demonstrieren, krempelte er die Aufgabengebiete der Kreml-Figuren um: Zu seinem Sprecher ernannte er Alexej Gromow; der 39-jährige Ex-Diplomat war seit der
Wiederwahl Jelzins 1996 Leiter des Pressedienstes. Zum neuen Protokollchef im Kreml machte er den bisherigen Sprecher des Außenministeriums, Wladimir Rachmanin (41). Neuer Leiter des Kreml-
Pressedienstes wurde Igor Schtschogelew (34), der früher ITAR-TASS-Korrespondent und Sprecher von Ex-Regierungschef Jewgeni Primakow war. Entlassen wurden der leitende Referent Jelzins, Andrej
Storch, sowie zwei Unterabteilungs-Leiter.
Das Dilemma des Westens
Die für den Einfluss des Familienclans entscheidende Frage, nämlich, ob Putin im März tatsächlich zum Präsidenten gewählt wird, beantworten die Analysten mit einem fast hundertprozentigen "Ja". Ob
Putin dabei im Ausland als eigenständig handelnder Staatschef betrachtet werde oder als Schoßhund mache für die "Familie" keinen Unterschied. Höchstens der Krieg in Tschetschenien und die Reaktion
des Westens darauf könne sich noch als mögliches Hindernis entpuppen. "Die westlichen Regierungen stehen vor einem Dilemma: Sie müssen sich entscheiden, ob es für sie wichtiger ist, eine ungeachtet
aller Auswirkungen strenge moralische Haltung zu Tschetschenien einzunehmen, oder ob Stabilität in Russland ein bedeutenderes Ziel ist", sagt Fjodorow.
Die "Familie" jedenfalls werde bis zu Wahl vereint an einem Strang ziehen, sind die Experten überzeugt. Wenn Putin dann tatsächlich als Sieger daraus hervorgegangen ist, werde aber gleich das Hauen
und Stechen um die besten Plätze in der Einfluss-Sphäre des Kreml ausbrechen.