In der Öffentlichkeit zu stehen, kann in Russland lebensgefährlich sein, wie der Mord am Lokalpolitiker Dimitri Fotjanow neuerlich gezeigt hat. Der Bürgermeisterkandidat von Dalnegorsk, einer Bergbaustadt in Südosten Landes, wurde am Donnerstag, drei Tage vor der Stichwahl, beim Verlassen seines Wahlkampfbüros erschossen.
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Er ist bereits das vierte Opfer in fünf Wochen: Am Montag wurde der Finanzchef der Nachrichtenagentur Itar-Tass in seiner Wohnung tot aufgefunden, zuvor waren die international bekannte Journalistin Anna Politkowskaja sowie Vize-Zentralbankchef Andrej Koslow von Auftragskillern "liquidiert" worden. Insgesamt sind in den ersten neun Monaten dieses Jahres bereits 47 Wirtschafts- und Politikermorde offiziell bekannt geworden. Die Dunkelziffer dürfte aber noch weitaus höher liegen.
In Russland sehen sich viele wieder in die 90er Jahre zurückversetzt, als der Kampf um Anteile am lukrativen Staatskuchen hunderte Leichen jährlich hinterließ. Auch hinter den jetzigen Morden stehen meist Provinzoligarchen, ihre gekauften Staatsorgane und Geheimdienstkreise, die gemeinsam missliebige Konkurrenten mit Kalaschnikows ausschalten.
Besonders häufige Opfer sind Kritiker wie Andrej Koslow, der Transparenz in den russischen Bankensektor bringen wollte, oder Anna Politkowskaja, die in ihrem jüngsten Buch "In Putins Russland" die Verflechtungen zwischen Organisierter Kriminalität und Politik anhand konkreter Fälle aufgezeigt hat.
Auch politische Interessen spielen im "Kriminalfall Russland" eine Rolle. Wie im Falle des "Autounfalls" des tschetschenischen Expremiers in Moskau. Zwar hatte er schwer verletzt überlebt, das Ziel war aber erreicht: Er machte, ganz im Sinne der Kremlführung, kurz darauf den Weg für Ramzan Kadyrow frei, der nun in Grosny mit Terrormethoden für Ruhe sorgt. Keiner dieser Morde und Mordversuche wurde je aufgeklärt.
Präsident Wladimir Putin war mit dem Versprechen angetreten, Law and Order wiederherzustellen - das steigert die Popularitätswerte im Inneren und sichert Wirtschaftsinteressen im Ausland. Mit seinem Faible für eine Politik der harten Hand konnte der einstige KGB-Major auch rechtfertigen, dass er seine Geheimdienst-Kumpane an die Schalthebel von Wirtschaft, Politik und Justiz setzte.
Doch notwendige Schritte, um der wachsenden Gewalt Einhalt zu gebieten, unternahm er nicht. Wie es etwa eine Justizreform gewesen wäre, die Richtern mehr Befugnisse gegenüber den höheren Instanzen einräumt und die sie damit bei der Aufklärung von Verbrechen unabhängiger macht. Im Gegenteil: Die politische Einflussnahme nahm zu.
Lieber bemüht man sich im Kreml, die Kriminalitätsstatistiken zu schönen. Das Innenministerium pries erst kürzlich den kontinuierlichen Rückgang von Auftragsmorden in den letzten vier Jahren. Hinter den Fassaden wächst jedoch das Klima der Angst.