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Kritik an Amnestie als Symbolakt vor Spielen in Sotschi - eine Analyse.
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Moskau. Maria Aljochina wollte gar nicht begnadigt werden. "Ich war entschlossen, diese Amnestie abzulehnen, aber die Gefängnisverwaltung bekam den Befehl - und deshalb wurde ich hierher gebracht", beklagt sich die Punk-Musikerin nach Verlassen des Straflagers in Nischnij Nowgorod über Wladimir Putins vorweihnachtliche Zwangsbegnadigung vor Journalisten. Denn sie fühlt sich als Opfer einer Politshow.
In drei Monaten hätte die 25-jährige Mutter ihre zweijährige Haftstrafe wegen eines Putin-kritischen Punkgebets in der Moskauer Erlöserkathedrale ohnehin abgebüßt, doch der Kremlchef hat es plötzlich sichtlich eilig, einige seiner Opponenten, die er hinter Gitter bringen ließ, freizukriegen.
Kurz nachdem sich am Montag 400 Kilometer östlich von Moskau für Aljochina die Gefängnispforte geöffnet hatte, wurde im Rahmen des jüngst beschlossenen Amnestiegesetzes auch ihre politische Mitstreiterin entlassen, ebenfalls Pussy-Riot-Mitglied - Nadeschda Tolokonnikowa, ebenfalls Mutter eines kleinen Kindes und als Mitglied von Pussy Riot bis März verurteilt.
Michail Chodorkowski, Russlands bekanntester politischer Häftling, der lang vor seiner Verhaftung 2003 zum schärfsten Putin-Kritiker mutierte Ex-Oligarch, wurde drei Tage zuvor schon aus seiner Zelle geholt und in einer an Sowjetzeiten erinnernden Nacht- und Nebelaktion ins Exil gebracht. Doch anders als der 50-Jährige, der bei seinem ersten öffentlichen Presseauftritt in Berlin nach zehn Jahren Haft sichtlich bemüht war, Putin verbal nicht zu sehr zu brüskieren, weil einige seiner einstigen Mitstreiter bei Jukos immer noch in Haft sind und ihnen weitere Schauprozesse drohen, nahmen sich die beiden Pussy-Riot-Sängerinnen nach ihrer Freilassung kein Blatt vor den Mund. Ungebrochen und perfekt gestylt trat Tolokonnikowa vor die Scheinwerfer der russischen Presse. Ja, sie wolle weiter politisch kämpfen in Russland - in Opposition zu Putin, sagt die alte Wortführerin der schrillen Punkband mit den Strickmasken. Und: "Russland ist eine einzige "Strafkolonie."
Aufruf zum Sotschi-Boykott
Auch Aljochina kündigte an, ihren Kampf gegen das System Putin fortsetzen zu wollen. Ihre Freilassung sei lediglich ein "PR-Gag vor den Olympischen Spielen in Sotschi im Februar", gab sie sich, noch in Gefängniskleidung, angriffslustig. Mit ihrer Überzeugung steht sie keinesfalls allein. Auch Russlands Opposition sieht hinter Putins Amnestie pures Kalkül. Tolokonnikowa forderte auch einen Boykott der Olympischen Spiele. "Ich rufe sie (westliche Regierungen, Anm.) auf, nicht beizugeben wegen Öl- und Gaslieferungen aus Russland."
Angesichts der wachsenden Kritik des Westens an den Menschenrechtsverletzungen und der mangelnden Rechtsstaatlichkeit in Russland versuche Putin, sein angekratztes Image vor den Olympischen Winterspiele in Sotschi ein wenig aufzupolieren, heißt es. Immerhin sagten bereits mehrere westliche Spitzenpolitiker, unter anderem die Staatschefs der USA und Deutschlands, ihre Teilnahme an den Spielen ab, das sich der Kreml 50 Milliarden Dollar kosten lässt - 30 bis 40 Prozent davon fließen nach Schätzungen von Boris Nemzow, dem Anführer der Oppositionspartei Parnas, allerdings auf die Schwarzgeldkonten der Machtclique.
An den strukturellen Problemen des Systems, die Justizexzesse wie die Verfahren gegen die einstige Jukos-Führung möglich machen, wird sich aber mit Putins Symbolpolitik nichts ändern, denn das würde an seiner Allmacht kratzen - und nichts fürchte der Kremlchef mehr als das, sind viele überzeugt.
Niemand bekam das besser zu spüren als Michail Chodorkowski. Weil Putin in ihm 2003 einen potenziellen politischen Herausforderer fürchtete, ließ der Kreml ihn und seien Kompagnon Platon Lebedew verhaften und in zwei Verfahren zu insgesamt zehn Jahren Haft verurteilen. Nun ließ Putin Chodorkowski zwar frei, aber der einst reichste Mann Russlands zahlt dafür einen hohen Preis: Er bleibt Putins Geisel.
Der Deal: Chodorkowski verzichtet im Exilauf jede Art von politischem Engagement und ringt juristisch nicht mehr um die Rückgabe seiner Jukos-Anteile. Beides hat er in seiner Pressekonferenz wie bestellt bestätigt - in der Hoffnung, dass Putin dann irgendwann auch seinem Freund und Mitkämpfer Lebedew die Freiheit wiedergeben wird.