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"WZ"-Gespräch mit russischem Historiker Nikita Petrov. | "Kreml will keine Verselbstständigung der Massen sehen." | "Wiener Zeitung" : Wie beurteilen Sie die derzeitige Entwicklung der russischen Gesellschaft?
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Nikita Petrov: Es wird versucht, den Anschein einer Demokratie zu wahren, doch es ist eine Autokratie. Die Medien und die öffentliche Meinung werden gesteuert und nichtstaatliche Organisationen kontrolliert. Dafür gibt es neue Termini wie souveräne Demokratie, wobei von einer Demokratie in Wirklichkeit keine Rede sein kann.
Welche Rolle spielt dabei Putin? Ist er der starke Mann oder selbst nur eine Figur in einem komplexen Spiel?
Ich glaube, Putin ist einerseits das Symbol für diesen autoritären Staat und andererseits der Mann, der alles unter Kontrolle hält. Mit ihm existiert natürlich ein Apparat.
Was sind die Gründe für das autoritäre Verhalten des russischen Staates?
Der Staat möchte einfach alle Überraschungen, die auf ihn warten könnten, ausschließen. Vor allem die Orange Revolution in der Ukraine hat die russische Führung in Sorge versetzt, weil dort eine Verselbstständigung der Massen eingesetzt hat, die der Kreml bei sich nicht sehen möchte. Der russische Staat will wieder seine Grenzen vor ausländischen Einflüssen schließen.
Nichtstaatliche Organisationen werden ja durch ein neues Gesetz verschärft kontrolliert. Was sind die ersten Auswirkungen dieses Gesetzes?
Die staatliche Kontrolle ist nun derart, dass die kleineren Organisationen in Russland nicht überleben. Betroffen sind davon vor allem nichtstaatliche Organisationen, die kaum Finanzierungsquellen haben.
Wie zeigen sich diese Kontrollen?
Ständig werden die Finanzen dieser Organisationen überprüft und sie sind laufend rechtlichen Kontrollen ausgesetzt. Dadurch bleibt ihnen für ihre eigentlichen Tätigkeiten keine Zeit mehr, die ganze Energie der Mitarbeiter ist auf diese Überprüfungen ausgerichtet.
Wie ist die Entwicklung der russischen Zivilgesellschaft in diesem Zusammenhang zu sehen?
Der Versuch, die Zivilgesellschaft vollkommen unter staatlicher Kontrolle zu halten, führt genau zu ihrem Zusammenbruch. Denn das Ziel dieser Kontrollen liegt nicht darin, die Rechtmäßigkeit dieser Organisationen zu überprüfen, sondern darin, sie zu unterdrücken.
Sie selbst sind Mitglied einer Menschenrechtsorganisation. Wie ist derzeit die Lage der Menschenrechte in Russland?
Sie wird schlechter. Menschenrechtsorganisationen haben weniger Einfluss als noch vor zehn Jahren. Und die Medien als ein Instrument, die Situation der Menschenrechte zu kontrollieren, werden selbst gegängelt. Es besteht hier ein Zusammenhang zwischen der Zivilgesellschaft und der politischen Macht. Wenn die Zivilgesellschaft total kontrolliert wird, ist es unmöglich zu erfahren, was sich tatsächlich in Russland abspielt.