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Putins Scharfmacher

Von Alexander Dubowy

Gastkommentare

Wie soll der Westen mit russischer Kriegsrhetorik umgehen?


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Kaum eine Woche vergeht ohne Drohgebärden und Schimpftiraden des ehemaligen Präsidenten, langjährigen Premierministers Russlands und vormaligen russischen Vorzeige-Liberalen Dmitri Medwedew. So erklärte Medwedew am Morgen des 15. Juni in seinem Telegram-Kanal, die Ukraine brauche die kürzlich abgeschlossenen LNG-Lieferverträge mit "ihren transatlantischen Herren" nicht, da das Land womöglich in den kommenden zwei Jahren von der Weltkarte getilgt sein werde. Doch auch andere Vertreter des politischen Establishments in Russland scheuen nicht vor wutentbrannten Äußerungen der Ukraine gegenüber zurück.

Jüngst bezeichnete Dmitri Rogosin, Leiter der russischen Raumfahrtorganisation Roskosmos und von 2011 bis 2018 stellvertretender Regierungschef sowie davor ständiger Vertreter der Russischen Föderation bei der Nato, in seinem Twitter-Account die gegenwärtige Ukraine als "existenzielle Bedrohung für das russische Volk, die russische Geschichte, die russische Sprache und die russische Zivilisation" und rief unverhüllt zur Ausrottung der ukrainischen Nation und Kultur auf. Nur zu offensichtlich soll dabei der Begriff der "existenziellen Bedrohung" die Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes andeuten. Auch Kreml-Chef Wladimir Putin selbst lässt keine Gelegenheit aus, die Souveränität und die daraus erwachsende Handlungsfreiheit Russlands zu betonen und der Ukraine jedwede Existenzberechtigung zu verweigern.

Vor dem Hintergrund derart brutal-ehrlicher Drohgebärden durch führende Vertreter des russischen Machtapparates und in Anbetracht unzähliger Kriegsverbrechen russischer Streitkräfte, die den Ernst der Drohungen seit vier Monaten erschreckend eindrucksvoll unterstreichen, versetzen einen die selbstreflexiven innerdeutschen Waffenlieferungs- und Kriegsdebatten sowie die zunehmend lauter werdenden Forderungen nach Akzeptanz russischer Interessen in der Ukraine sowie die Aufrufe zur Suche nach einer politischen Lösung, mit der auch Russland einverstanden wäre, in eisiges Staunen.

Ein wohlklingender Trugschluss

Freilich enthält dieser sich in Kleider der Friedenspolitik kunstvoll hüllende Erklärungsansatz ein sehr großes Körnchen Wahrheit. Denn selbstverständlich gibt es eine politisch-diplomatische Lösung, die man in Moskau nur zu gern akzeptieren würde. Diese besteht aus der Sicht der russischen Führung in einer bedingungslosen Kapitulation und der voraussetzungslosen Unterwerfung der Regierung in Kiew unter die Willkür des Kreml.

Warnungen, dass Waffenlieferungen an die Ukraine für den Kreml zwingend eine Grenzüberschreitung bedeuten müssen, die Konflikteskalation beschleunigen und letztlich auch den Einsatz taktischer Nuklearwaffen provozieren könnten, sind ein wohlklingender Trugschluss. Freilich ist allein die Überzeugung, der Westen könne einen unmittelbaren, wesentlichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung Putins nehmen, kindlich naiv und maßlos selbstüberhöhend zugleich - deswegen aber um keinen Deut weniger falsch.

Zwar kann sich der Westen über den genauen Verlauf der sprichwörtlichen roten Linien in der Vorstellungswelt Putins keinesfalls sicher sein, so gipfelt letztlich jede Handlung auf westlicher Seite in ein heuristisches Spiel aus Versuch und Irrtum, jedoch dürfte das eigentliche Problem dabei darin bestehen, dass es keine klaren roten Linien mehr gibt. Jede beliebige Handlung des Westens kann von Wladimir Putin zu jedem beliebigen Zeitpunkt als eine unverzeihliche Grenzüberschreitung ausgelegt werden.

Worte und erst recht Taten des Kreml ernst nehmen

So verständlich und nachvollziehbar der Wunsch nach baldigem Frieden auch sein mag, gilt es für die politischen und akademischen Kreise der gesamten EU nach vier Monaten Krieg, nach den Untaten von Mariupol, Butscha und unzähligen zerstörten Orten in der Ukraine, die schlichte Wahrheit radikaler Erwartungen des Kreml ernst zu nehmen. Der Westen wäre gut beraten, die politischen Entscheidungen auf der festen Grundlage tatsächlicher Handlungen und Äußerungen der russischen Führung zu treffen und nicht auf dem sprichwörtlichen Sand selbstgerechter Scheinfriedenspolitik zu bauen.

Nach mehr als 100 Tagen fruchtloser Friedensbemühungen zwischen der Ukraine und Russland und zahlloser enttäuschter Hoffnungen kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgehalten werden, dass der russische Präsident von Anbeginn an keinerlei Interesse an einer ehrlichen diplomatischen Lösung hatte. Kein belastbares Indiz deutet auch nur ansatzweise darauf hin, dass der Kreml von den politischen Minimalforderungen wesentlich abzurücken bereit wäre. Auch das Maximalziel einer prorussischen Regierung in Kiew dürfte der russische Präsident ebenso wenig aufgegeben haben.

Es geht nicht um einen Machtwechsel in Moskau

Angesichts der kategorischen Positionierung der zentralen Angehörigen russischer Führungszirkel erscheinen jedwede noch so ambitionierte und gut gemeinte Vermittlungs- und Beschwichtigungsversuche - wie etwa die regelmäßigen und seit Invasionsbeginn bereits mehr als 100 Stunden zählenden Telefonate zwischen dem französischen Präsidenten Emanuel Macron und Putin - vergebens zu sein. Wie eine jenseits des unbedarften Wunschdenkens gangbare diplomatische Lösung tatsächlich aussehen könnte und welche Schritte von westlicher Seite dies zur Voraussetzung hätte, skizzierte US-Präsident Joe Biden in einem Gastbeitrag für die "New York Times" vom 31. Mai.

Darin legte er die Beweggründe für seine Entscheidung, moderne Mehrfachraketenwerfersysteme an die Ukraine zu liefern, offen und präzisierte zugleich die Zielsetzungen der USA im Rahmen der militärischen, humanitären und finanziellen Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen die russische Invasion: Es gehe weder um eine Eskalation der Kriegshandlungen noch um einen Machtwechsel in Moskau, sondern um eine demokratische, unabhängige, souveräne und wohlhabende Ukraine, die sich gegen weitere Aggressionen zu verteidigen vermöge.

Mehr realpolitisches Denken wagen

Unter Verweis auf die Worte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wies Biden darauf hin, dass der Ukraine-Krieg letztlich nur auf diplomatischem Wege endgültig beendet werde. Jedoch bilde jede Friedensverhandlung das Abbild der Realität vor Ort, so der US-Präsident. Man habe der Ukraine binnen kurzer Zeit eine "beträchtliche Menge an Waffen und Munition" zukommen lassen, damit sie den Kampf fortsetzen und am Verhandlungstisch eine möglichst starke Position einnehmen könne.

Die Überlegungen des US-Präsidenten zeichnen den einzigen - realpolitisch - adäquaten und glaubwürdigen Weg hin zu einer belastbaren diplomatischen Lösung. Je länger und entschlossener sich die Ukraine mithilfe - dringend benötigter - westlicher Waffenlieferungen gegen Russland zu wehren vermag, desto schneller wird die Bedrohungswahrscheinlichkeit für weitere Eskalationen in und jenseits der Ukraine sinken und desto geringer wird der Preis sein, den die Ukraine und letztlich auch der Westen für den Frieden zahlen müssen.