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Es hat bis vor wenigen Monaten schon einiges an politischer Fantasie bedurft, um sich den strategischen Beschuss einer europäischen Großstadt durch Truppen einer europäischen Armee vorstellen zu können. Im August 2014 wurde genau das wieder Wirklichkeit.
Die Lage in der Ostukraine steht Spitz auf Knopf: Um die Rebellenhochburg Donezk wird erbittert gekämpft. Die Regierungstruppen sind auf dem Vormarsch, die prorussischen Separatisten kündigen eine Gegenoffensive an. Und über all dem hängt das Damoklesschwert eines direkten Eingriffs Russland.
Wenn, dann wird Moskau dabei wohl dankend auf das vom Westen ersonnene Konzept der humanitären Intervention zurückgreifen. Einmal mehr erweist sich Wladimir Putins Russland als gelehriger Schüler, der alle Optionen, die sich ihm aus der neuen Unübersichtlichkeit der Weltordnung eröffnen, zum eigenen Vorteil nutzt. Sezession und Anschluss der Krim hat er bereits mit dem Beispiel des Kosovo gerechtfertigt. Nun braucht er einen Vorwand für ein direktes Eingreifen.
Zur Erinnerung: Das Konzept der humanitären Intervention (auch unter dem Begriff der Schutzverantwortung - englisch R2P für Responsibility to Protect - diskutiert) ist eine politische Hilfskonstruktion, um militärisches Eingreifen zum Schutz vor Genozid und Massenmord an Zivilisten auch ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats zu ermöglichen. Nicht Recht, sondern Moral soll den Einsatz von Gewalt legitimieren. Nato-Einsätze 1999 im Kosovo oder in Libyen 2011 wurden mit dieser Begründung gerechtfertigt.
Kritiker warnten von Anfang an, dass ein solches Vorgehen militärischen Interventionen Tür und Tor öffnen könnte. Putin scheint diese Bedenken nun zu bestätigen. Und Moral ist ja tatsächlich eine wacklige politische Argumentationskrücke, gerade weil sie sich so gnadenlos für andere Zwecke manipulieren und instrumentalisieren lässt. Das hat der Westen selbst zur Genüge bewiesen.
Dabei wird nur eines übersehen: Das Völkerrecht taugt ebenfalls nicht als absoluter Maßstab für die Politik. Und Putin fände bei Bedarf garantiert auch ohne das Konzept der humanitären Intervention einen Vorwand zum Eingreifen. Notfalls eben durch simplen Bruch des Völkerrechts.
Wie das geht, hat er mit der Annexion der Krim bereits vorexerziert.