Türkische Justiz wagt sich erstmals an die Aufarbeitung der dunklen Junta-Ära.
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Ankara. 32 Jahre lang haben die Angehörigen der Opfer des Militärputsches von 1980 in der Türkei auf diesen Tag gewartet. Entsprechend groß war der Andrang vor dem Gerichtsgebäude in Ankara, in dem sich seit Mittwoch zum ersten Mal zwei hochrangige Ex-Juntamitglieder für den Staatsstreich verantworten müssen. Viele der vor dem Zivilgericht Versammelten hielten Fotos ihrer verschwundenen, hingerichteten oder zu Tode gefolterten Angehörigen in Händen.
Angeklagt sind der 94-jährige Putschistenführer Kenan Evren und der 87-jährige Ex-Luftwaffengeneral Tahsin Sahinkaya - die drei übrigen Junta-Mitglieder sind bereits tot. Evren und Sahinkaya müssen sich wegen Umsturzes der verfassungsmäßigen Ordnung verantworten. Im Falle einer Verurteilung droht ihnen lebenslange Haft. Das Urteil wird in der Türkei mit Spannung erwartet, auch wenn unklar ist, ob die Angeklagten es wegen ihres hohen Alters überhaupt noch miterleben werden. Beim Prozessauftakt waren sie jedenfalls nicht anwesend. Das Gericht gestattete den Ex-Generälen, ihn aus gesundheitlichen Gründen von daheim aus zu verfolgen. Am Mittwoch wurde zunächst Evren per Videoschaltung befragt. Reue für seine Taten zeigte der Putschistenführer, der sich 1982 zum Staatspräsidenten ausrufen ließ, keine. "Ich würde es wieder tun", hatte der selbsterklärte Anti-Kommunist schon bei seiner Vernehmung durch den Staatsanwalt im Vorjahr bekannt.
Gemeinsam mit den Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte und der Gendarmerie hatte er 1980 nach der Absetzung der zivile Regierung von Ministerpräsident Süleyman Demirel die Macht übernommen, die demokratische Verfassung außer Kraft gesetzt, ein Parteienverbot erlassen und die linken Kräfte im Land brutal verfolgt. 650.000 echte oder vermeintliche Aktivisten wurden verhaftet, mehrere hundert starben durch Hinrichtungen oder Folter. Unter ihnen waren viele Kurden, das Foltergefängnis von Dyarbakir war eines der berüchtigtsten.
Tatkräftige Unterstützung, so heißt es, erhielten die Putschisten einst von den USA und der Nato. Deren (vermutlich 1990 aufgelöste) paramilitärische Geheimorganisation Gladio soll bereits davor gemeinsam mit den Militärs und ultrarechten Nationalisten verdeckte Operationen gegen Linksgruppierungen durchgeführt haben. 1981 wurde zudem der Amerikanisch-Türkische Verteidigungsrat gegründet, mit dem die USA die Stationierung einer Spezialarmeeeinheit in den Kurdengebieten forcieren wollten.
Die Putsch-Bewegung hätte den USA die Stabilisierung der Region nach der Revolution im Iran und dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan erleichtert, gab der damalige US-Präsident Jimmy Carter 1988 unumwunden zu. Als ihm am 12. September der Berater des Nationalen Sicherheitsrates die Nachricht vom Türkei-Putsch (dem bereits dritten seit 1960) überbrachte, soll er dies mit den Worten getan haben: "Unsere Burschen in Ankara haben ihn ausgeführt."
Lange Zeit fühlten sich Evren und seine Mitstreiter vor der türkischen Justiz sicher. In der 1982 unter Militärherrschaft erlassenen Verfassung hatten die Generäle eine umfassende Straffreiheit für sich selbst verankert. Erst eine Volksabstimmung im September 2010 auf Initiative der islamisch-konservativen AKP-Regierung zerstörte die Idylle der Ex-Putschisten. Die Türken schafften deren Immunität ab und ermöglichten so die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. In dem nun begonnenen Verfahren treten nicht nur hunderte Junta-Opfer und Verbände als Nebenkläger auf, sondern auch Parlament und Regierung. Die Aufarbeitung des Putsches ist ein Kernanliegen von Recep Tayyip Erdogan. Seit er 2003 Regierungschef wurde, ist es ihm und seiner AKP gelungen, die Macht des Militärs, das als Hüterin der säkularen Verfassung auch nach dem Ende der Militärherrschaft massiven politischen Einfluss hatte, zu beschneiden.
Dass der Putsch nun erstmals vor Gericht aufgerollt wird, ist ein Sieg der Politik über die Armee. Das Gerichtsverfahren zeigt den Opfern wie auch den demokratischen Kräften in der Türkei: Das Militär ist nicht mehr unantastbar. Der Prozess gilt deshalb als historisch - auch wenn dessen Ausgang ungewiss ist.