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Puzzlespiel der Medizin nach Maß

Von Eva Stanzl

Wissen
Genetische Veränderungen als Schlüssel zur Therapie. Foto: Fotolia

Viele experimentelle Ansätze, aber noch wenig individuelle Therapien. | Die echte Umwälzung liegt im Verhindern von Krankheiten. | Wien. Die Medizin steht vor einer Zeitenwende. Zumindest wenn es nach Serdas Savas geht. Personalisierte, auf das individuelle Rüstzeug der Gene abgestimmte Heilkunde für alle sei "keine Frage des Ob, sondern nur mehr des Wie und Wann", unterstrich der Leiter des Genar Instituts für Öffentliche Gesundheit in Istanbul seine These kürzlich im Rahmen des European Health Forum.


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Die richtige Diagnose zum richtigen Zeitpunkt beim richtigen Patienten. Maßgeschneiderte, individuelle Therapie, die genetischen Unterschieden gerecht wird und als personalisierte Medizin die Expertenrunde macht. Sie sei nicht weniger als eine "wissenschaftliche Revolution", bekräftigt auch Angela Brand, Direktorin des Europäischen Gesundheitszentrums der Uni Maastricht.

Im Bestreben, länger gesund zu leben, stützen wir unsere Hoffnungen auf die sich stets verbessernden Methoden der Medizin. Doch wie realistisch ist es, dass künftig alle Bürger mit den speziell für sie zusammengestellten Wirkstoffen ihre Krankheiten bekämpfen können? Wer stellt Geld dafür bereit? Und vor allem: Was ist auf diesem Gebiet bereits möglich - und was nicht?

Blick in die medizinischePraxis ernüchtert noch

Der Blick in die Praxis ist ernüchternd. Trotz so mancher Euphorie ist Medizin nach Maß nach wie vor ein Minderheitenprogramm. Etwa wird der Großteil der Medikamente ausschließlich an Männern getestet. In der Regel würden zudem "weder Alter noch Körpermasse, weder Fettverteilung noch Muskelmasse bei der Entwicklung, Herstellung und Auswahl von Medikamenten berücksichtigt", präzisiert Alexandra Kautzky-Willer, Professorin für Gender-Medizin an der Medizinuniversität Wien.

Zudem regiert die Medikamenten-Gießkanne auch aus verständlichen Gründen. Etwa warnen Pharma-Konzerne generell vor der Einnahme von Medikamenten im Fall einer Schwangerschaft, weil sich schwangere Frauen gar nicht erst für klinische Tests zur Verfügung stellen. Dazu kommt, dass die Schulmedizin bei vielen Krankheiten nicht weiß, wie sie zu heilen sind, geschweige denn zu verhindern wären. Spezialistin Kautzky-Willer nennt ihr Fachgebiet Diabetes: Obwohl das menschliche Genom zur Gänze entschlüsselt ist, wisse man nicht, welche genetischen Veränderungen zum sogenannten Altersdiabetes führen. Zudem spielen hier Auswirkungen des Lebensstils eine große Rolle. Sie wären bei einer individuellen Behandlung ebenfalls zu berücksichtigen.

Das Puzzle der personalisierten Medizin muss also erst zusammengefügt werden, bevor von einer Zeitenwende überhaupt die Rede sein kann. Immerhin: Einige Puzzlestücke liegen bereits auf dem Tisch. Etwa können Rheumatologen Patienten auf ein Antigen namens B-27 testen, das bei zehn Prozent der Menschen vorkommt. Sie sind anfällig für bestimmte Formen von Rheumatismus. Entsprechend können Ärzte die Behandlungsmethoden anpassen. Ähnliche Ansätze werden bei Hautkrankheiten verfolgt sowie bei Impfstoffen, wobei bei Letzteren vor allem an der Zusammensetzung der Wirkstoffe im Relation zum Alter gearbeitet wird.

Erfolge feiert auch die maßgeschneiderte Krebsmedizin: Neben Operation, Bestrahlung und Chemotherapie kommen sogenannte Target-Therapeutika - derzeit vor allem für Formen von Leukämie und Brustkrebs - zum Einsatz. Sie heften sich nur an veränderte Tumorzellen an und haben weniger Nebenwirkungen.

Allerdings muss dafür genau diagnostiziert werden, ob das entsprechende Medikament beim jeweiligen Patienten wirken kann. "Wirkstoffe werden über Rezeptoren aufgenommen. Da jeder Mensch unterschiedliche Rezeptoren hat, muss man genetisch testen, ob ein Patient überhaupt empfänglich ist für das Medikament: Die Brustkrebs-Patientin gibt es nicht", sagt der Humangenetiker Markus Hengstschläger.

Zudem gibt es noch nicht für alle Krebsarten Target-Medikamente. "Die Tumore, die maßgeschneidert behandelt werden, sind relativ einfach zu entschlüsseln. Jetzt brauchen wir noch die komplexeren Arten", betont Johannes Khinast vom Research Centre Pharmaceutical Engineering in Graz.

Tabletten zum Ausdrucken auf essbarem Papier

Khinast verfolgt mit einem Team der Karl-Franzens-Universität und der TU Graz einen anderen Ansatz: die "Tablette zum Ausdrucken". Dabei werden individuell zusammengestellte Wirkstoffe auf essbares Papier gedruckt, das in eine Gelatinkapsel gehüllt wird. Patienten, die etwa an mehreren Funktionsstörungen leiden, würden damit nicht mehr mehrere Medikamente schlucken müssen, sondern nur ein einziges - abgestimmt auf genetisches Rüstzeug, Größe, Körpergewicht, Konstitution, Geschlecht und Alter. "Möglicherweise wäre das auch billiger als derzeit, weil Patienten weniger Pillen nehmen müssten. Spitäler und Apotheken könnten die Wirkstoffe schon in zehn Jahren in Kartuschen bestellen."

Derzeit liegen die Kosten für Target-Therapien in der Krebsmedizin bei bis zu 50.000 Euro pro Person und Jahr. Wie viel Medizin nach Maß für alle kosten könnte, wagt derzeit niemand zu beziffern. Kautzky-Willer zufolge wird man sich "vermutlich darauf einpendeln, spezielle Therapien für bestimmte Personen-Gruppen zu entwickeln. Jedem sein eigenes Medikament anzufertigen, wäre wohl zu teuer und zu aufwendig."

Außer, es gäbe einen Paradigmenwechsel in der Heilkunde. Denn wenn die maßgeschneiderte Medizin Krankheiten präzise vorhersagen und auch verhindern könnte, wäre ein Wechsel von der reaktiven zur präventiven Medizin die Folge. Und das wäre tatsächlich eine Revolution für das Gesundheitssystem.

Nach heutigen schulmedizinischen Grundsätzen greift der Arzt erst ein, wenn der Patient bereits krank ist. Dem entsprechend werden in der maßgeschneiderten Schulmedizin genetische Ursachen für Krankheiten gesucht und Therapien darauf abgestimmt. "Zu verstehen, wie die Umwelt Gen-Defekte auslöst und diese wieder bereinigt, wäre das Thema der Zukunft. Dann könnte man Vorweg-Behandlungen entwickeln, um den Ausbruch von Krankheiten zu verhindern. Oder wir könnten den Lebensstil entsprechend modifizieren", betont Khinast. Vorsorge-Medizin wäre nicht mehr bloß das Schlagwort von Polit-Kampagnen, sondern medizinischer Alltag. Aufgrund der Kenntnis der genetischen Disposition jedes Menschen und der Zusammensetzung seiner Erbsubstanz könnten Erkrankungen im Keim erstickt werden.

Ungelöste Fragen derEthik und Machbarkeit

Dieser an sich wünschenswerten Zukunftsvision stehen jedoch ungelöste Fragen der Ethik und der Machbarkeit entgegen. Derzeit stellt sich die Frage nach dem Sinn von DNA-Sequenzierungen, die heute für rund 1000 Euro zu haben sind. "Krankheitsrisiken flächendeckend auszutesten wäre nur dann gut, wenn wir für alle Krankheiten Lösungen hätten - schließlich kann man Eingriffe nicht auf Verdacht vornehmen", sagt Kautzky-Willer.

Hengstschläger zufolge ist "das Ziel Prävention. Aber nur mit klaren wissenschaftlichen Parametern. Aber zu den Einflüssen von Umwelt und Lebensstil haben wir noch keine klaren Empfehlungen." Wenig Rücksicht nehmen derzeitige Gentests zudem auf den Einfluss der Epigenetik - also auf die Einflüsse der Umwelt auf die DNA. Denn das ist ein hochkomplexer Prozess, der vielen Veränderungen unterworfen ist.

Maßgeschneiderte Medizin hat neben vielen kleinen also auch große Hürden zu überwinden.

Wissen: Maßgeschneiderte Medizin

Die Medizin nach Maß (personalisierte Medizin) verfolgt im Großen und Ganzen zwei Ansätze. Bei dem reaktiven Ansatz, greift der Arzt erst ein, wenn der Patient Anzeichen von Krankheit zeigt oder schon krank ist. Genetische Tests auf Krankheitsrisiken erfolgen mit konkreten Fragestellungen und zielen auf Leiden ab, die behandelt werden können. Zudem wird die Empfänglichkeit der Patienten für bestimmte Medikamente über DNA-Tests ermittelt. Konkrete Erfolge gibt es unter anderem in der Krebstherapie, der Rheumatologie und in der Dermatologie, wo die maßgeschneiderte Medizin zur Anwendung kommt.

Geforscht wird unter anderem auch an der "Tablette zum Ausdrucken", bei der Wirkstoffe nach individuellen Bedürfnissen auf Papier gedruckt werden. Weiters wird an Arznei-Nanopartikeln gearbeitet, sowie an der zielgerichteten, individuellen Unterbindung von Organversagen als Todesursache im Alter.

Dem präventiven Ansatz stehen ethische Probleme und Defizite in der Heilbarkeit vieler Leiden im Weg. Er zielt auf die Verhinderung von Krankheiten ab und bedingt ein genetisches Screening, auf dessen Grundlage Menschen ihren Lebensstil verändern oder therapiert werden könnten. Derzeit bieten einschlägige Unternehmen solche Tests an. Würde der Ansatz allgemeine Praxis, hätte das einen Paradigmenwechsel im Gesundheitssystem zur Folge.