Zum Hauptinhalt springen

Puzzlesteine des Weltkriegs

Von Heiner Boberski

Wissen
Bibel mit Granatsplitter aus dem Ersten Weltkrieg: "Antikriegsmahnmal" der Familie Geiler.
© Cornelius Geiler

Aktionstag für das internationale Projekt "Europeana 1914-1918" am 1. August in Wien.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. Der deutsche Infanterist Kurt Geiler verdankte sein Leben seiner in Leder gebundenen Bibel. 1917 zerstörte eine Granate seinen Unterstand in Nordostfrankreich, tötete viele seiner Kameraden, doch er kam unverletzt davon. In der Bibel, die er beim Schlafen immer unter seinem Kopf hatte, fand sich ein vier Zentimeter langer Granatsplitter. Sein Enkel Markus Geiler nennt die Bibel das kostbar gehütete "Antikriegsmahnmal" der Familie.

In vielen Haushalten gibt es noch private Erinnerungsstücke zum Ersten Weltkrieg, seien es Briefe, Feldpostkarten, Tagebücher, Fotos, Filme, Tonaufnahmen oder Alltagsgegenstände. Solche Objekte aufspüren will das Projekt "Europeana 1914-1918", das gestern, Dienstag, in der Wienbibliothek im Wiener Rathaus vorgestellt wurde. Europeana, durch die Europäische Kommission ins Leben gerufen, ist seit 2008 Europas digitale Bibliothek, Museum und Archiv mit Zugang zu 30 Millionen Dokumenten und Kulturgütern. Das digitale Archiv zum Ersten Weltkrieg umfasst schon 130.000 Objekte aus 20 Ländern.

Ad Pollé, Projektkoordinator der Europeana Foundation, ruft nun die Österreicher auf, an einem Aktionstag am 1. August im Wiener RadioKulturhaus Andenken an den Ersten Weltkrieg mit anderen zu teilen. Geschulte Interviewer halten fest, was die Überbringer der Objekte dazu zu erzählen haben. Die Objekte selbst werden an Ort und Stelle bildlich erfasst und digitalisiert, dann können sie wieder nach Hause mitgenommen werden. Auch online kann man Objekte und Informationen einreichen.

Es geht, so Pollé, nicht nur darum, Europas kulturelles Erbe im Internet zugänglich zu machen, sondern auch die "persönliche Geschichte der europäischen Bürger". Frank Drauschke, Projektleiter Europeana 1914-1918, zeigte sich überrascht vom großen Interesse, etwa auch in Ländern wie Zypern, das Maultiertreiber für die britische Armee stellte, oder Irland, wo es den bisher bestbesuchten Aktionstag (600 Personen) gab. Alle Altersgruppen seien vertreten, ob nun eine junge deutsche Familie den Becher eines Vorfahren oder ein 103-jähriger Slowene eine seinerzeit angefertigte Flasche präsentierte.

Manchmal tauchen auch historisch relevante Stücke auf - wie in München eine Postkarte des damaligen Gefreiten Adolf Hitler. Auf unterschiedlichen Wegen gerieten Objekte - darunter das Kriegstagebuch eines Rumänen - von drei in japanische Gefangenschaft geratenen Matrosen der SMS Kaiserin Elisabeth in die digitale Sammlung, erzählte Drauschke: "So ein Projekt führt auch kleine Puzzleteile der Geschichte zusammen."

Virtuelles "An meine Völker"

Der ORF will die am 1. August erschlossenen Objekte auch zur Anreicherung künftiger Programmschwerpunkte nutzen, sagte Herbert Hayduck, Leiter des ORF-TV-Archivs. Europeana zeigt aber nicht nur private Erinnerungsstücke, sondern auch Teile institutioneller Sammlungen. Die Österreichische Nationalbibliothek (ONB) kooperiert mit Europeana, indem sie ab sofort ihre aktuelle Ausstellung "An meine Völker!" auch dauerhaft als virtuelle Ausstellung online offeriert.

Angesichts der unzähligen Publikationen und Ausstellungen zum Ersten Weltkrieg in diesem Jahr brachte Hans Petschar, Direktor des Bildarchivs und der Grafiksammlung der ONB, "eine fundamentale Kritik" an: "Dieser Krieg wird immer noch als nationaler Krieg gesehen - mit allen Konsequenzen und Vorurteilen, die damit verbunden sind." Die Museen in den einzelnen Ländern hätten auch 2014 noch "hauptsächlich ein nationales Geschichtsbild im Kopf", wie 1914 würde die Schuld am Krieg beim jeweiligen Nachbarn gesehen.

In dieser Situation, so Petschar, sei es gut, wenn es einen Ort gibt, wo diese unterschiedlichen Bilder zusammengeführt werden. Diesen Ort gebe es zwar physisch in ganz Europa nicht, es sei aber nun das Web, mit dessen Hilfe sich weltweit ein großes Publikum selbst ein Bild machen könne.