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Pyjama und Menschenrechte

Von Bernhard Achitz

Recht

Selbstbestimmt leben zu können, ist ein Menschenrecht. Auch in Pflegeheimen und Psychiatrien. Personalmangel kann jedoch zu Unzufriedenheit und Menschenrechtsverletzungen führen.


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Was haben Pyjamas, Liftknöpfe und Abendessen um 16.30 Uhr mit den Menschenrechten zu tun? Nun, erst einmal gar nichts. Aber wenn man jemandem verbietet, Privatkleidung zu tragen. Wenn man den Lift so programmiert, dass man das Haus nur mit Code verlassen kann. Oder wenn man jemanden schon am frühen Nachmittag zum Abendessen zwingt, dann fällt das unter unmenschliche und herabwürdigende Behandlung. Und das verstößt gegen die Menschenrechte, auch in Psychiatrien, Pflegeheimen und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen.

Die Volksanwaltschaft (VA) hat den verfassungsgesetzlichen Auftrag, zum Schutz und zur Förderung von Menschenrechten öffentliche und private Einrichtungen zu überprüfen, in denen Menschen in ihrer Freiheit beschränkt sind oder beschränkt werden können. Dazu zählen neben Gefängnissen unter anderen auch Psychiatrien, Alten- und Pflegeheime und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Multidisziplinär zusammengesetzte Kommissionen der VA kontrollieren ohne konkreten Anlass und unabhängig von Beschwerden pro Jahr etwa 500 Einrichtungen, in den meisten Fällen unangekündigt. In der ersten Phase der Corona-Pandemie, als noch wenige Details über das Ansteckungsverhalten des Virus bekannt war, haben die Kommissionen vorübergehend auf telefonische Befragungen umgestellt. Mittlerweile finden die Kontrollen wieder ganz normal statt.

Beanstandungen in fast 80 Prozent der Einrichtungen

Aufgabe der VA ist die präventive Menschenrechtskontrolle: Wir müssen Menschen davor bewahren, unmenschlich und erniedrigend behandelt zu werden. Verletzungen der Menschenrechte sollen verhindert werden, noch bevor sie stattfinden. Es geht nicht um die Feststellung vorhandener Menschenrechtsverletzungen, sondern um konkrete Empfehlungen und Grundsätze, mit denen unmenschliche und erniedrigende Behandlung so unwahrscheinlich wie möglich wird.

Rechtliche Grundlage sind zwei Abkommen der Vereinten Nationen: das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (Opcat) sowie die UN-Behindertenrechtskonvention.

Aber leider können sich die Kommissionen in vielen Fällen nicht darauf konzentrieren, künftige Fälle von Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Denn sie müssen oft feststellen, dass menschenrechtlich problematische Behandlung bereits laufend stattfindet. In fast 80 Prozent der 2019 besuchten Einrichtungen kam es zu Beanstandungen. Am häufigsten wurden die Lebens- und Aufenthaltsbedingungen beanstandet (14,4 Prozent), worunter Sanitär- und Hygienestandards, die Verpflegung oder das Angebot an Freizeitaktivitäten fallen. Unzureichende Personalressourcen gaben ebenfalls häufig Anlass zur Kritik (13,7 Prozent). Fast ebenso hoch war der Anteil der Beanstandungen, die sich auf das Gesundheitswesen und den Umgang mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen bezogen (jeweils 13,4 Prozent).

Normalitätsprinzip muss beachtet werden

Aber nicht nur drastische Maßnahmen wie Freiheitsentzug oder medikamentöse Ruhigstellung sind es, die unmenschliche Behandlung ausmachen. Es geht auch darum, das Normalitätsprinzip zu beachten: Die Menschen sollen ihre früheren Lebensgewohnheiten auch in der Pflegeeinrichtung möglichst weiter leben können. Dazu gehören Privatgewand und private Gegenstände ebenso wie der Gewohnheit entsprechende Schlafenszeiten. Bettfertig machen und Licht abdrehen am frühen Abend - das fällt unter strukturelle Gewalt. Was das Essen betrifft, sollten höchstens fünf Stunden zwischen zwei Mahlzeiten liegen, zwischen Abendessen und Frühstück maximal zwölf Stunden. Best-Practice-Beispiele bieten noch eine Jause am späten Abend an.

Auf die "Normalität" wirkt es sich ebenfalls positiv aus, wenn Pflegeheime ein Café oder einen Friseur in ihren Räumen ermöglichen, am besten auch für die Bevölkerung von außerhalb. Davon profitieren genauso Pflegebedürftige, die sonst keine Besuche erhalten.

Es gibt noch einige weitere Punkte, die selbstverständlich sein sollten: die Möglichkeit, ins Freie zu gehen; Mitbestimmung über Pflege und medizinische Betreuung; Privatsphäre durch Einzelzimmer oder zumindest abgetrennte Bereiche; individuell benutzbare Sanitärräume; und die Möglichkeit, persönliche Dinge zu versperren.

Für Menschen mit Behinderungen ist das Normalitätsprinzip noch einmal wichtiger, denn sie sind nicht kurzzeitig, sondern oft ihr Leben lang auf Unterstützung angewiesen. Zentral in der UN-Behindertenrechtskonvention sind das Recht auf Inklusion und das Recht auf Selbstbestimmung. Inklusion bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft sind. Deshalb sollen sie sämtliche Bereiche ihres Lebens selbst bestimmen können. Zum Beispiel, wie und wo sie leben, was und wo sie arbeiten oder welche Schulen sie besuchen. Selbstbestimmung kann nur funktionieren, wenn die Gesellschaft geeignete Rahmenbedingungen dafür schafft. Gesellschaft heißt hier konkret: die Politik, je nach Themenfeld in Bund, Ländern und Gemeinden.

In den allermeisten Fällen ist offensichtlich: Die Menschen in den Pflegeeinrichtungen werden nicht aus Bösartigkeit schlecht behandelt. Die Tür ist verschlossen, weil das Personal für die Begleitung in den Garten fehlt. Das Abendessen wird serviert, solang noch die Tagschicht da ist. Sehr viele Probleme sind durch Personalmangel begründet. Wenn dann auch noch PflegerInnen unter Quarantäne gestellt werden und von einem Tag auf den anderen ausfallen, und wenn die verbliebenen Beschäftigten unter erschwerten Bedingungen (Schutzausrüstung oder Ähnliches) arbeiten müssen, verschärft sich das Problem Personalmangel weiter.

Mehr Geld für mehr Personal - und zwar für entsprechend qualifiziertes Personal - ist der Schlüssel für menschenwürdige Bedingungen. Ist das Personal überfordert, steigt das Risiko für Menschenrechtsverletzungen. Dass die Menschenrechte eingehalten werden, darf in einem der reichsten Länder der Welt aber nicht am Geld scheitern.

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