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Qual der Wahl für Währungshüter: Vorrang für Inflation oder Konjunktur

Von Hermann Sileitsch

Analysen

Vom Säulenheiligen zum Buhmann: Dieses Schicksal kann Währungshüter recht unvermittelt ereilen. Jahre- oder gar jahrzehntelang galt Alan Greenspan, ehemaliger Chef der US-Notenbank Fed, als Guru der Finanzmärkte. Bis im Vorjahr die Immobilienblase in den USA platzte. Plötzlich wurde er als Mitschuldiger der Subprime- sowie der folgenden Kreditmarktkrise identifiziert, mit der die Banken weltweit immer noch kämpfen. Greenspans Niedrigzinspolitik habe die Blase erst ermöglicht, so der Vorwurf. | Jetzt droht Jean-Claude Trichet, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), ähnliches - unter umgekehrten Vorzeichen: Bisher wurde die EZB als Garant für Stabilität und Vernunft gelobt. Nach der jüngsten Anhebung des Leitzinssatzes auf 4,25 Prozent werfen Kritiker Trichet vor, die Konjunktur abzuwürgen. Die EZB gefährde hunderttausende Arbeitsplätze in der Eurozone, poltern deutsche Gewerkschafter. Sie zeihen den EZB-Boss der "gesamtwirtschaftlichen Verantwortungslosigkeit".


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So viel Aufregung wegen eines Viertelprozents Zinsen? Tatsächlich hängt viel von der Entscheidung von Fed und EZB ab: Mit dem Leitzins legen die Währungshüter fest, zu welchem Preis sich Geschäftsbanken bei der Zentralbank Geld leihen können. Sie steuern so die umlaufende Geldmenge und damit die Inflation - allerdings mit noch weiter reichenden Folgen: Sinkt der Zinssatz, so bringen die Banken mehr Geld in Umlauf. Kredite werden für Unternehmen und Private billiger, das Geld wird in Investitionen und in den Konsum gesteckt. Die Kehrseite: Die Geldentwertung (Inflation) wird beschleunigt.

Steigende Zinssätze haben den gegenteiligen Effekt - sie stabilisieren die Preise, machen aber Kredite teurer. Damit sinkt die Nachfrage nach Waren und die Investitionsbereitschaft der Unternehmen.

Greenspan-Nachfolger Ben Bernanke hatte bis zuletzt wie sein Vorgänger kräftig an der Konjunkturkurbel gedreht - die Leitzinsen in den USA liegen immer noch bei niedrigen zwei Prozent. Die höhere Inflation nimmt Bernanke bis dato in Kauf: US-Konsumenten haben kaum Sparguthaben, sondern leben eher auf Pump. Damit trifft sie die Geldentwertung nicht so stark. Die Einschätzung ändert sich allerdings - jetzt hat US-Finanzminister Henry Paulson die Inflation als Topthema identifiziert.

Die EZB sieht seit jeher ihre Hauptaufgabe darin, die Stabilität der Preise zu sichern. Rezessionsängste plagen Jean-Claude Trichet hingegen nicht: Er sprach von einem "bescheidenen, aber anhaltenden Wachstum". Viele Europäer hoffen, dass er damit recht behält.

Manche Experten bezweifeln sogar, dass die Inflation mit der Zinsanhebung in den Griff zu bekommen ist: Diese werde vor allem vom hohen Ölpreis getrieben - und auf den haben nicht einmal die mächtigen Notenbanker Einfluss.