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Quasi politisch

Von Georg Biron

Reflexionen

"Der Herr Karl" machte Qualtinger zum Star. Zum 30. Todestag von Helmut Qualtinger.


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"Mir brauchen Se gar nix erzählen . . ." So beginnt "Der Herr Karl", geschrieben von Carl Merz und Helmut Qualtinger. Die Figur trat zunächst im Fernsehen in Erscheinung, danach auf Theaterbühnen zwischen Wien, Berlin und New York. Mit langer Hose, Arbeitsmantel, Wollweste, ungebügeltem Hemd und achtlos gebundener Krawatte berichtet der Herr Karl in einem 50 Minuten dauernden Monolog aus seinem Leben. Erster Weltkrieg, Wirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg, Besatzungszeit, Staatsvertrag und Wirtschaftswunder.

Er erzählt, wie er überlebt hat. Wie er es sich gerichtet hat. Wie er Frauen ausgebeutet hat, sexuell und materiell. Arbeitsscheu und feig, war er ein Mitläufer ohne Überzeugungen. Aber dennoch unterm Strich ein Verlierer. Kein großer Verbrecher zwar, eher ein kleiner Gauner, der jedoch die "Banalität des Bösen" vielleicht sogar mehr verkörpert hat als ein Kriegsverbrecher aus den Reihen der NS-Elite.

Um Politik kümmert er sich nicht, wenn dabei nichts für ihn zu holen ist. Im Gemeindebau hat er eine Wohnung, deshalb ist er Sozialist. Nach dem Verbot der SP geht er als Demonstrant für die schwarze Heimwehr auf die Straße - weil er dafür fünf Schillinge bekommt. Auch bei den Nazis demonstriert er für fünf Schillinge: "Österreich war immer unpolitisch. Aber a bissel Geld is’ halt z’samm kommen."

Politischer Instinkt

Der Bildhauer Alfred Hrdlicka schätzte an Qualtinger vor allem den politischen Instinkt: "Der ‚Herr Karl‘ war, rückblickend gesehen, nicht Vergangenheits-, sondern Zukunftsbewältigung. Er hat den Leuten den Spiegel vorgehalten, sie haben sich darin gesehen, haben sich aber nicht erkannt. Sie haben über den Quasi gelacht, kapiert haben sie nichts."

Demzufolge wählten die in Wien arbeitenden Auslandsjournalisten 1961 nicht Bruno Kreisky oder Herbert von Karajan zum "Populärsten Österreicher des Jahres", sondern - Helmut Qualtinger. Der kommentierte seine Ehrung nur knapp: "Jetzt werden mir schon Preise verliehen. Mit mir geht’s bergab!" Fotos zeigen ihn ungewohnt mit Smoking, weißem Hemd und Fliege.

"Der Herr Karl" machte Qualtinger zum Star. Bekannt geworden war er aber bereits davor als Kabarettist. Das Publikum zwängte sich in unbequeme Klappsitze, um das "Wunderteam des Kabaretts" im Kellertheater zu erleben. Qualtinger & Co. konnten sich am politischen Alltag der 1950er Jahre verschwenderisch bedienen. Aber das Lachen des Publikums kastrierte die Kritik. Sogar Politiker gratulierten zum Verriss.

"Die reinste Freude ist die Schadenfreude", sagte der Wiener Bürgermeister Franz Jonas nach einer Kabarettpremiere. "Deshalb lache ich recht herzlich, wenn der Qualtinger nicht mich, sondern die anderen in der Luft zerreißt." Bundeskanzler Julius Raab kommentierte: "Das Raunzen ist eine der hervorstechendsten österreichischen Nationaleigenschaften. Wenn der Österreicher raunzt, ist er gesund."

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Qualtinger musste einsehen, dass seine Absichten, die Menschen zum Umdenken zu bringen, gescheitert waren: "Sie vernichteten uns mit Applaus. Deshalb habe ich aufgehört."

Ihm wäre es lieber gewesen, wenn man ihn gefürchtet hätte. Doch: "Eine ganze Nation verlieh ihm die kumpelhafte Bezeichnung ‚Quasi‘, weil sie nicht hören wollte, was er sagte, sondern nur wie er es sagte", glaubt der Dichter Peter Turrini.

Die Herzlichkeit, mit der ihn fremde Menschen oft überfallsartig auf der Straße umarmten und dadurch signalisierten, "Er ist einer von uns!", war Qualtinger nie geheuer. Er wusste: "Mein Erfolg ist ein einziges Missverständnis!"

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Qualtinger als "Herr Karl", Kleines Theater im Konzerthaus, Wien 1961.
© Imagno/Barbara Pflaum

</span>In den 1950ern spottete er gut und gerne über die Regierung: "Wenn Sie sich in einem Land befinden, in dem eine Partei regiert, während eine andere die Opposition stellt, dann sind Sie in einer Demokratie. Wenn Sie in einem Land sind, in dem eine Partei regiert und keine die Opposition macht, weil sie verboten ist, dann ist das eine Diktatur. Wenn Sie sich in einem Land befinden, in dem zwei Parteien regieren, die sich zugleich die Opposition machen, dann sind Sie in Österreich!"

Dissident

"Darüber", so Qualtinger 1986, "könnte ich heute nicht mehr lachen, der Witz ist Fleisch geworden!" In seiner Satire "Der Alleinherrscher" brachte er das herrschende politische Bewusstsein der "schweigenden Mehrheit" auf den Punkt: "Das ist für mich Demokratie: Die Papp’n halten und grinsen."

Qualtinger war ein österreichischer Dissident, der bei Johann Nestroy, Karl Kraus und Ödön von Horváth seine kulturellen Wurzeln fand. Das Wienerische hatte es ihm angetan. Es war die Sprache der Vorstädte und der Einsamkeit, die Sprache verlorener Träume und verdrängter Geschichte. Sein Thema waren die Menschen - die Menschen und die Wiener, denn: "Manchmal weiß ich nicht: Bin ich ein Mensch oder ein Wiener?"

In knappen Sätzen ließ er sie zu Wort kommen - und mit ihnen die Sehnsüchte und Grausamkeiten, die Verliebtheiten und Intrigen, die Bösartigkeiten und Gewaltakte. All das wohnt in seinen literarischen Texten und wird zur beklemmenden Talkshow, zum fleckigen Spiegelbild, in dem die selbstgefälligen Definitionen des österreichischen Nationalcharakters ins böse Lot gebracht werden.

In den kleinen Auseinandersetzungen der Personen erkennt man die großen gesellschaftspolitischen Zusammenhänge. Für moralische Verkommenheit, seelische Korruption, politischen Faschismus und mächtige Sprachlosigkeit war Qualtinger ein Experte, der zeitlebens an einem Lexikon alpenländischer Charakterlosigkeit zu arbeiten schien. Ein philosophischer "Negativist", der voller Unmut an den Zeiten zerrte, ohne dabei an Terrain gewinnen zu können. Scheinbar Historisches holte er als österreichische Zeitmaschine, die weder Vergessen noch Verdrängen kennen wollte, in die Gegenwart. Er gab der Sprache Leben und gefährliche Aktualität.

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Qualtinger wollte als politischer Schriftsteller ernst genommen werden: "Ich unterwandere. Das ist wirkungsvoller als das offene Gefecht. Da kann man mir keinen Maulkorb umbinden. Nes-troy hat gesagt: ‚Wer zensuriert werden kann, ist selber schuld.‘"

Mit seinem wild wuchernden Vollbart wirkte Qualtinger in den 1970ern oft, als hätte er bereits einige Revolutionen hinter sich. Er trug eine grüne Fidel-Castro-Mütze, Jeans und eine NATO-Jacke oder dunkle zerknautschte Anzüge. Er hatte abgenommen und fixierte seine Hosen mit Trägern, weil sie schlotterten. Als Treibstoff verwendete er Bier und Magenbitter, gemischt mit Cola. In seiner Brieftasche bewahrte er eine kleine Fotomontage auf, die ihn neben Mao Tse-tung zeigte - Revoluzzer unter sich: "Ist des ned guad?"

Alkohol & Arbeitswut

Der Journalistin Flora Lewis vom "New York Times Magazine" fiel auf, dass Qualtinger im Laufe eines Interviews 15 Whiskys kippen konnte - scheinbar ohne betrunken zu werden: "Ich bin ein mächtiger Trinker und ein kärglicher Esser. Aber ich kann jederzeit mit dem Trinken aufhören. Aber ich will nicht . . ."

Qualtinger war kein glücklicher Mensch. Er war ein exzessiver Alkoholiker, der seine Sucht nicht ernst nahm und zu diesem Thema gerne Doderer zitierte: "Ich halte jeden Menschen für voll berechtigt, auf die Beschaffenheit unserer Welt mit schwerstem Alkoholismus zu reagieren. Wer nicht säuft, setzt heutzutage eine beachtliche und freiwillige Mehr-Leistung."

Der Umfang seines künstlerischen Schaffens beweist seine Vielseitigkeit und Arbeitswut. Bisher hat sich noch niemand die Mühe gemacht, im Detail aufzulisten, wie oft Qualtinger auf einer Bühne gestanden ist. Wir wissen aber, dass Texte von ihm in einem Dutzend Bücher zu finden sind und dass man seine markante Stimme auf ungefähr 50 Schallplatten hören kann. Außerdem hat er zwischen 1952 und 1986 in fast ebenso vielen Fernseh- und Filmproduktionen unterschiedlichster Qualität als Kabarettist und Schauspieler mitgewirkt.

Günter Krenn vom Filmarchiv Austria notierte dazu in seinem Buch "Helmut Qualtinger. Die Arbeiten für Film und Fernsehen", dass Qualtinger zu den meisten Zeiten seiner Karriere "ungemein produktiv" war: "Die Schlagworte seines Tagesablaufes lauten: Lesen, Schreiben, Proben, Rundfunk, Fernsehen, Abendvorstellung [. . .] Der Terminkalender ist übervoll wie der eines Managers. Er selbst betont: ‚Ich schaff es schon. Ich bin doch ein Viech.‘"

Legendär sind seine Vorlesungen. Ein Wasserglas blieb oft das einzige Requisit. Qualtinger betrat die Bühne, schlug ein Buch auf und begann, manchmal ohne das Publikum zu begrüßen, mit der Lesung. Aber er las seine Szenen nicht bloß vor, er tischte sie auf. Pausenlos schob er Text für Text ins Auditorium, wie große Holzscheite in einen Kamin. Er tat es mit der Besessenheit eines Attentäters. Die Auswahl der Texte war Teil seiner Agitation und Propaganda: "Ich bin ein Partisan." Er las H. C. Artmanns Villon-Übersetzungen ("schön anarchistisch"), Henry David Thoreaus "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" ("sprachlich ein Kraftakt") oder auch auszugsweise und immer wieder "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus.

An Kraus faszinierte ihn die Geradlinigkeit: "Der Kraus war eine absolute Instanz. Weil er unbestechlich war und gnadenlos. Und weil er nur sich selbst verantwortlich gemacht hat. Wenn er Fehler gemacht hat, dann waren es seine eigenen. Und das macht ihn in einer Welt, in der jeder seine Fehler einen anderen begehen lässt und immer fremde Erfolge selbst errungen haben will, unangreifbar."

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Qualtinger war ein Schauspieler mit vielen Gesichtern, unzähligen Stimmen und eindeutigen Gesten. Er war ein Magier, ein Zauberer, ein Illusionist. Mit Handbewegungen und knapp vorgetragenen Regieanweisungen entwarf er Bühnenbilder, in denen sich Massenszenen ereigneten. Als Zuschauer sah man Personen über die Bühne fegen und entdeckte Gassen, Gärten oder Paläste, die keine Kamera aufnehmen hätte können. Und kein Theaterensemble der Welt hätte diese Szenen besser darstellen können als das Einmanntheater Helmut Qualtingers.

Es ist sein Verdienst, dass der im KZ Buchenwald ermordete junge Dichter Jura Soyfer nicht vergessen worden ist. Qualtinger nutzte die Popularität seiner Person, um Soyfers literarisches Werk mit Lesungen bekannt zu machen: "Die Leute haben überhaupt keine Ahnung gehabt von Soyfer."

"Mit diversen Themen beschäftigte er sich dermaßen intensiv, dass er im Bekanntenkreis den glaubhaften Eindruck erwecken konnte, da und dort selbst dabei gewesen zu sein und diesen oder jenen persönlich gekannt zu haben", weiß sein Verleger, Prof. Ulrich Schulenburg vom Bühnenverlag Thomas Sessler. So gibt es auch Zeugen dafür, dass Qualtinger mehrfach behauptet hat, Soyfer persönlich gekannt zu haben.

Das ist aber mehr als unwahrscheinlich, denn Soyfer ist im März 1938 beim Versuch, illegal die Schweizer Grenze zu übertreten, verhaftet und ins KZ Dachau gebracht worden. Und Qualtinger war damals noch nicht einmal zehn Jahre alt.

Hitlers "Mein Kampf" präsentierte er in beklemmender Eintönigkeit. Mit diesem Buch ging er sogar auf Tournee, "weil der Neofaschismus in der Luft liegt. Es ist das Phänomen der Dummheit, das mich mein Leben lang umkreisen wird". Dafür war es nicht notwendig, die Stimme Hitlers zu imitieren: "Das hab’ ich nur zum Teil gemacht. Sonst wird der Hitler empfunden wie der Hans Moser." Die "Bibel" des "größten Feldherrn aller Zeiten" machte betroffen, weil Qualtinger die erschreckende Primitivität von Hitlers Nazi-Ideologie bloßlegte: "Es liegen die Eier des Kolumbus zu Hunderttausenden herum, nur die Kolumbusse sind eben seltener zu treffen."

Johann Nestroy war seine größte Leidenschaft. Zwischen ihm und sich sah Qualtinger "gewisse Parallelen" - weil auch Nestroy "ein enttäuschter Revolutionär" war, der auf Unverständnis stieß. Und weil sich auch Nestroy intensiv mit dem geheimnisvollen Wesen der Sprache beschäftigte, wie Karl Kraus würdigte: "Nestroy ist der erste deutsche Satiriker, in dem sich die Sprache Gedanken macht über die Dinge. Er erlöst die Sprache vom Starrkrampf, und sie wirft ihm für jede Redensart einen Gedanken ab." Außerdem gebe es immer wieder "winzige Zwischenszenen, in denen ein Satz über die Bühne geht und eine Figur, ein Milieu, eine Epoche dasteht".

Sehr gerne gab Qualtinger auf der Theaterbühne den Schuster Knieriem, der in Nestroys "Lumpazivagabundus" das "Kometenlied" vortrug: "Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang!"

"Für Qualtinger schien der Vortrag und die Wirkung des ‚Kometenliedes‘ typisch zu sein", notierte der Theaterkritiker Hellmuth Karasek im "Spiegel". "Böse, hart und voller Abscheu für diejenigen, die nicht an die schrecklichen Zeichen des Kometen glaubten, trug er das vor, den Beifall mit verächtlichen Handbewegungen wegwischend. Er spielte hier den zur Verzweiflung gesteigerten Missmut desjenigen, der den nahenden Weltuntergang als Landler vorträgt - und merkt, dass der Landler begeistert beklatscht wird. Das Unpopuläre, das sich in Popularität verwandelt: einer, der auszieht, seinen Landsleuten die Leviten zu lesen, und dabei von ihnen begeistert in die Arme geschlossen wird."

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"Der Herr Karl ist tot!"

Helmut Qualtingers Tod am 29. September 1986 löste auch im Ausland Erschütterung aus. Die "New York Times" meldete sein Ableben auf Seite eins, eine Pariser Radiostation gestaltete eine Sonder-Sendung. Im "Spiegel" war zu lesen, dass Qualtinger "Basis-Erziehung in Sachen Demokratie geleistet" hatte. Und in Österreich las man: "Der Herr Karl ist tot!"

Unter dem Titel "Ein Schluck Leben" verfasste "Profil"-Kolumnist Reinhard Tramontana einen Nachruf, in dem er sich betroffen zeigte über den Tod seines Freundes - und über die Art, wie man ihn verabschiedet hatte. Man könne froh sein, dass Qualtinger "die Nachrufe nicht erlebt hat: Denn wer sie alle gelesen und gehört hat, der musste zum Schluss kommen, dass unser ‚allseits unendlich geliebter Quasi‘ von uns gegangen sei, unser ‚Lieber Augustin‘ - gewissermaßen der Herr Conrads."

Tramontana fragte, warum in Österreich nirgendwo erwähnt wurde, "dass Qualtingers spirituelle Batterie der Antifaschismus war; dass sein ganzes künstlerisches wie privates Leben die wachsame, unerschütterliche Renitenz gegen die Wiedergutmachung an Austrofaschisten und Nationalsozialisten war?"

Peter Turrini rückte in seiner Trauerrede das öffentliche Bild vom "Quasi" zurecht: "In den Kommentaren zu Qualtingers Tod steht: ‚Er wird uns unvergesslich bleiben!‘ Das ist ein Satz wie ein Grab, in dem schon mehr verschwunden ist als ein Mensch. Was aber soll uns unvergesslich, also lebendig, bleiben? Jenes lieb gewordene Bild vom 'Quasi', an dem sich nun jeder bis zur absoluten Beliebigkeit bedienen kann, oder die Sätze des Schriftstellers, die treffen, ja verletzen wollen? Wenn wir den Schriftsteller Helmut Qualtinger wirklich leben lassen wollen, dann müssen wir endlich auf- und annehmen, wovon dieser Schriftsteller redet: vom ganzen Ausmaß jener politischen und menschlichen Schweinerei, die unter uns lebt und vielleicht auch in uns lebt."

Georg Biron, geboren 1958 in Wien, ist Schriftsteller, Reporter, Regisseur und Schauspieler.