Im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist soeben ein Taschenbuch von 80 Seiten erschienen, das über eines der faszinierendsten Kapitel der Mathematikgeschichte zumindest vom subjektiven Standpunkt eines der Hauptbeteiligten Aufschluss gibt. Dieser schildert, und zwar in Form von Dialogen und Briefen, die wechselvollen Beziehungen zwischen ihm und einigen anderen italienischen Mathematikern und Rechenmeistern in den Jahren 1531 bis 1540, sodass sich der Leser selbst ein - allerdings naturgemäß einseitiges - Bild machen kann, was sich damals abspielte. Es ging dabei vor allem um die so genannten kubischen Gleichungen.
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Seit dem Altertum hatte man nach einem Weg gesucht, um die kubischen Gleichungen lösen zu können. Als erstem gelang das um 1515 einem Lektor der Universität Bologna namens Scipione dal Ferro (1465 - 1526) - allerdings nur bei Gleichungen ohne quadratisches Glied.
Heutzutage würde man das sofort in einer internationalen mathematischen Zeitschrift veröffentlichen und dafür großes Lob und viele Ehrenpreise einheimsen. Doch dal Ferro dachte gar nicht daran, die sensationelle Entdeckung zu publizieren. Ein solches Wissen blieb damals oft ein streng gehütetes Geheimnis im engsten Familien- und Freundeskreis. Es war nämlich als Angriffs- und Verteidigungswaffe äußerst wertvoll in einer Zeit, da die Wiederbestellung und Weiterbeschäftigung eines Universitätslehrers oder beamteten Rechenmeisters und die Höhe seines Gehaltes davon abhingen, wie er bei den öffentlichen gelehrten Wettkämpfen abschnitt, in denen die Kontrahenten einander Aufgaben und Probleme stellten.
Zu einem solchen mathematischen Wettkampf kam es 1535 in Venedig zwischen den Rechenmeistern Antonio Maria Fior und Nicolo Tartaglia (1499/1500 - 1557). Jeder stellte dem anderen schriftlich 30 Aufgaben. Fior hatte die Lösungsregel von dal Ferro erhalten und seine Probleme waren ausschließlich kubische Gleichungen. Tartaglia dagegen stellte verschiedenartige algebraische und geometrische Aufgaben. Ihm gelang es, als zweitem nach dal Ferro, die Lösungsregel für kubische Gleichungen ohne quadratisches Glied zu entdecken, so dass er die 30 Aufgaben Fiors innerhalb von zwei Stunden lösen konnte, während dieser keine einzige Lösung fand.
Das Ergebnis dieses Wettkampfes sprach sich in Fachkreisen herum und zwei Mathematiker bemühten sich daraufhin, Tartaglia das Geheimnis, wie man kubische Gleichungen löst, zu entlocken: Der eine, von dem man sonst nichts weiß, war Zuanne de Tonini da Coi, der andere der gelehrte Philosoph, Mediziner und Mathematiker Hieronimo (auch Girolamo, Gerolamo oder Geronimo) Cardano (1501 - 1576). Zuanne versuchte es auf verschiedenste Weise: mit Tauschangeboten, Schmeichelei, Appellen an den Berufskollegen und sonstigen Tricks, doch ging er, auch durch Prahlereien, Tartaglia so auf die Nerven, dass dieser jeden Kontakt abbrach, ohne die Lösung verraten zu haben.
Cardano dagegen erhielt am 25. März 1539 in seinem Haus in Mailand die Lösungsmethode in Form eines Gedichtes, nachdem er "bei den heiligen Evangelien Gottes und als wirklicher Edelmann" geschworen hatte, diese nicht nur niemals zu veröffentlichen, sondern auch versprochen und als aufrichtiger Christ sein Wort gegeben hatte, "sie (die Entdeckungen) mir in Chiffren (Geheimschrift) aufzuzeichnen, damit sie nach meinem Tod niemand versteht".
Tartaglia sprach die Warnung aus, das gegebene Wort nicht zu brechen. Falls Cardano ein Buch mit der Lösungsregel veröffentliche, auch wenn er sie unter Tartaglias Namen bekannt gebe und ihn zum eigentlichen Entdecker mache, "verspreche ich Euch und schwöre, sofort danach ein anderes Buch drucken zu lassen, welches Euch nicht sehr angenehm sein wird."
Ein Wortbruch?
In der darauf folgenden Zeit fand Cardano auch die Lösung der Gleichungen mit quadratischem Glied, die Tartaglia nicht gelungen war. 1545 veröffentlichte er ein grundlegendes lateinisches Mathematikbuch mit dem Titel "Ars magna" (die große Kunst - gemeint ist die Algebra), in welchem er alle 13 kubischen Gleichungsformen ausführlich und mit Beweisen behandelte und an zwei Stellen zwar Scipione dal Ferro als Erstentdecker, doch Tartaglia als zweiten Entdecker nannte, der ihm die Lösung "persönlich, durch vieles Bitten erweicht, verriet".
Tartaglia machte seine Drohung wahr. Im Juli 1546 erschien in Venedig ein Werk mit dem Titel "Quesiti et Inventioni diverse" (Verschiedenerlei Aufgaben und Entdeckungen), in welchem er im neunten der Arithmetik, Geometrie und Algebra gewidmeten Buch eine sehr lebendige, aber sicher verzerrte Darstellung der Ereignisse gab und Cardano scharf angriff. Dabei hätte er ja jahrelang Zeit gehabt, selbst ein Werk über kubische Gleichungen zu veröffentlichen, was er aber sicherlich deshalb nicht tat, weil er diejenigen mit quadratischem Glied nicht lösen konnte. In der Geschichte der Mathematik wurde auf Grund seines Buches die Partei in dieser Kontroverse für Tartaglia ergriffen und Cardano als treuloser Wortbrüchiger hingestellt.
Im Februar 1547 richtete Cardanos früherer Diener und Schüler Lodovico Ferrari (1522 - 1565) eine öffentliche Streitschrift an Tartaglia, in der er seinen Lehrer gegen dessen Beleidigungen in den "Quesiti" in Schutz nahm und ihn zu einem mathematischen Wettstreit herausforderte. Bevor es im August 1548 dazu kam (wobei Tartaglia den Kürzeren zog), wurden je sechs in der Fachwelt verbreitete Herausforderungsschriften gewechselt. In der zweiten Ferraris berichtet dieser, dass Cardano und er 1542 in Bologna die Originallösung dal Ferros gesehen hatten und schrieb: "Wenn du Cardano nicht zugestehst, dass er deine, erlaubst du wohl wenigstens, dass er uns die Erfindungen anderer lehre?"
Erst als die seltenen Streitschriften um 1840 wiederaufgefunden wurden und diese Textstelle veröffentlicht wurde, wendete sich das Blatt und Cardano wurde, zumindest von einem Teil der Mathematikhistoriker, rehabilitiert.
Die "Quesiti" finden sich nur in großen Bibliotheken (auch in der Universitätsbibliothek Wien), doch gab die Akademie in der Geburtsstadt Tartaglias, Brescia, das Ateneo di Scienze, Lettere ed Arti (Athenäum der Wissenschaften, Literatur und Künste) 1959 eine Faksimileausgabe der zweiten Auflage von 1554 heraus, von der der Schreiber dieser Zeilen ein Exemplar erwarb.
Akribische Arbeit
In monatelanger Arbeit übersetzte er jene Stellen aus dem Renaissance-Italienisch, die sich mit den kubischen Gleichungen befassen, und besuchte den inzwischen verstorbenen Tartaglia-Experten Arnaldo Masotti in Mailand, der die Faksimileausgaben der "Quesiti" sowie der Streitschriften Ferrari - Tartaglia von 1547 und 1548 herausgegeben hatte. Notwendig war nicht nur, in die damalige Fachsprache der Mathematik einzutauchen, sondern alle behandelten mathematischen Probleme zu lösen und zu erläutern. Der Verfasser setzte den gesamten Text auch selbst in der mathematischen Computersprache LaTex.
Übrigens wird der Vorname Tartaglias in allen Nachschlagwerken und in der Literatur "Niccolò" geschrieben. Doch das ist falsch. Er selbst verwendete in allen seinen Büchern und in allen Dokumenten immer nur Nicolo.
"Die kubischen Gleichungen bei Nicolo Tartaglia. Die relevanten Textstellen aus seinen "QUESITI ET INVENTIONI DIVERSE" auf deutsch übersetzt und kommentiert" von Friedrich Katscher (Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) kostet 199 Schilling. Das Buch erfordert zum vollen Verständnis Vorkenntnisse der Algebra.