Mit dem Kriegs- bzw. Gewaltverbot befasst sich David Rezac. Der junge Völkerrechts-Wissenschaftler an der Uni Wien berichtet im Interview mit der "Wiener Zeitung", welche Auswirkungen der Irak-Krieg auf die Staatengemeinschaft und das Völkerrecht haben könnte.
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"Wiener Zeitung": Was bedeutet der Irak-Krieg für das Völkerrecht?
Rezac: Dass sich derzeit eine Weltmacht über das geltende Völkerrecht hinweg setzt, ist grundsätzlich eine schwere Bedrohung für die völkerrechtlichen Instrumente. Die UNO wird sich zwar nicht auflösen, die UN-Charta nicht in nächster Zeit ändern. Allerdings droht die Gefahr einer weiteren Zersetzung des Völkerrechts.
Könnte das, was jetzt nach Zersetzung aussieht, der Beginn einer neuen Entwicklung im Völkerrecht sein?
Es wird wichtig sein, den Verlauf der Irak-Krise zu beobachten. Dass der Militärschlag der USA von der internationalen Staatengemeinschaft nachträglich legitimiert wird, wie es etwa im Kosovo der Fall war, halte ich für unwahrscheinlich. An den Reaktionen vieler Staaten - die Erklärung des österreichischen Sicherheitsrates mag als Beispiel dienen - sieht man, dass es hier keinen Präzedenzfall gibt, der in neues Völkergewohnheitsrecht ausmünden könnte.
Dieser Verstoß der USA gegen geltendes Recht könnte also nicht - wie es regelmäßig im Völkerrecht passiert - eine Änderung der Rechtslage herbei führen?
Es stimmt, Kriege haben in der Vergangenheit zur Herausbildung neuer Normen - etwa zur Schaffung des Roten Kreuzes im 19. Jh. - geführt. Nur befinden wir uns seit 1945 in einer anderen Situation: Mit der UN-Charta wurde ein neues Regime errichtet und der zwischenstaatlichen Gewalt ein Riegel vorschoben. Artikel 2 Absatz 4 der Satzung der Vereinten Nationen kennt nur zwei Ausnahmen vom absoluten Gewaltverbot: Ermächtigung durch den Sicherheitsrat und Notwehr.
Die USA rechtfertigen ihr Handeln u. a. mit präventiver Notwehr, um sich - wie sie sagen - vor Terrorangriffen mit Massenvernichtungswaffen zu schützen. Was sagen Sie dazu?
Ich halte diese Argumentation für nicht haltbar. Präventive Selbstverteidigung ist völkerrechtlich nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig. Ein Beispiel dafür ist der 6-Tage-Krieg, den Israel 1967 führte. Die Bedrohung von außen muss konkret sein und unmittelbar, Alternativen zur Gewaltanwendung müssen fehlen. Als die israelische Luftwaffe 1981 einen Reaktor im Irak bombardierte, wurde dies als Verletzung des Gewaltverbots gesehen. Ähnlich ist die Situation im Irak-Krieg zu bewerten. Auch besteht die Gefahr, dass andere Staaten dem Beispiel der USA folgen könnten. Nordkorea etwa hat gedroht, dass es präventive Notwehr in Anspruch nehmen könnte.
Was halten Sie von der Idee, humanitäre Interventionen als dritte Ausnahme vom Gewaltverbot zuzulassen?
Dass bei massiven humanitären Vergehen eine Intervention ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates möglich sein soll, will nur eine Minderheit von Völkerrechtlern. Aber hier ist die Diskussion nicht abgeschlossen. Ein solcher Tatbestand wäre beim Völkermord in Ruanda anwendbar gewesen, als das Zögern der Staatengemeinschaft unerträglich war. Das Europäische Parlament hat hierzu einen recht guten Kriterienkatalog ausgearbeitet.
Haben wir die Situation, dass eine Hegemonialmacht das Recht bestimmt?
Ich glaube, dass die derzeitige US-Regierung - vor dem Hintergrund des 11. September und einer durchaus nicht unrealistischen Gefährdung durch weitere Terroranschläge - eine aggressive Strategie entwickelt hat. Allerdings muss man im gegenständlichen Fall einräumen, dass die USA über Monate versucht haben, im Sicherheitsrat zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Auch die Positionen der Kriegsgegner im Sicherheitsrat waren oft nicht nachvollziehbar. V. a. die sogenannten massiven Kriegsgegner - etwa Frankreich - blieben Alternativen schuldig. Die Frage bleibt offen, ob ein breiteres Vorgehen gegen einen Diktator, der sich beharrlich über Resolutionen hinweg gesetzt hat, eher zum Erfolg geführt hätte.
Das Gespräch führte M. G. Bernold
Gewaltverbot
Art. 2 Abs. 4 Satzung der Vereinten Nationen (SVN): Alle Mitglieder enthalten sich in ihren internationalen Beziehungen der Drohung mit Gewalt oder der Gewaltanwendung, die gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit irgendeines Staates gerichtet oder sonst mit den Zielen der UN unvereinbar ist.
Das Kriegs- oder Gewaltverbot, seit 1945 in Artikel 2 Absatz 4 der Satzung der Vereinten Nationen festgeschrieben, ist heute eine der Grundregeln im internationalen Zusammenspiel. Von herausragender Bedeutung ist der Leitsatz, weil er - meinen die Völkerrechtler - mit ius cogens ausgestattet ist, d. h. unabdingbaren, unabänderbaren Charakter besitzt. Über seine Festschreibung in der UN-Charta hinaus wird das Gewaltverbot als Teil des Völkergewohnheitsrechts gesehen. Lediglich unter zwei Voraussetzungen darf vom Gewaltverbot abgewichen werden: Im Fall der Selbstverteidigung (Art. 51 SVN) oder aber, wenn es sich um eine zulässige Sanktion eines zentralen Organs der UN handelt. Da der Sicherheitsrat - v. a. während des Kalten Krieges - vielfach blockiert war, wurde die Ausübung des Selbstverteidigungsrechtes zum Regelfall. In bestimmten Fällen wurde auch präventive Selbstverteidigung als zulässig erachtet. Als Rechtfertigung für mehrere Gewaltakte (zuletzt NATO-Luftangriffe gegen Jugoslawien 1999) herangezogen wurden auch sogenannte Interventionen aus humanitären Gründen, wenngleich dies von der Mehrheit der Völkerrechtler abgelehnt wird.
Ob eine Gewaltanwendung letztlich eine Rechtsverletzung ist, oder aber nur der erste Schritt einer geänderten völkerrechtlichen Praxis, hängt maßgeblich von der Reaktion der Staatengemeinschaft ab. Mithin werden die Regierungen der Staaten nach Ende des Irak-Kriegs zu entscheiden haben, ob die USA als Rechtsbrecher oder Rechtsetzer zu werten sind. (mgb)