Der Spitzendiplomat glaubt, dass Europa Kraft hat, die Krise zu meistern.
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New Orleans. Der Süden der USA ist an sich ein seltsamer Ort und seine Peripherie, der südlichste Süden, ist gar noch ein wenig seltsamer. New Orleans, Louisiana: knapp 400.000 Einwohner und eine einzigartige Geschichte. An diesem Ort wurde der Jazz erfunden und das erste Rotlichtviertel Amerikas, hier stehen intakte Häuser herum, die noch die spanischen und die französischen Kolonialisten erbaut haben, und hier ereignete sich eine der größten Naturkatastrophen in der jüngeren Geschichte der USA: Vor acht Jahren verwüstete Hurrikan Katrina gut zwei Drittel der Stadt.
Seitdem ist viel Wasser den Mississippi hinunter- und viel Geld in den Wiederaufbau hinaufgeflossen, so viel (Schätzungen gehen bis zu 150 Milliarden Dollar), dass nicht einmal die landesweit für ihre Korruption berüchtigte Lokalpolitik einen wirtschaftlichen Aufschwung verhindern konnte. Ein ehemaliges Krisengebiet auf dem Weg der Besserung also. Auf solchem Terrain fühlt sich Wolfgang Petritsch nicht unwohl, damit kennt er sich aus wie nur wenige Diplomaten.
Petritsch, Jahrgang 1947, zuletzt österreichischer Botschafter bei der OECD in Paris. Zuvor, unter anderem: Botschafter in Belgrad, EU-Chefverhandler bei den Kosovo-Friedensverhandlungen, Hoher Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf; im Inland war und ist der vielfach ausgezeichnete Sozialdemokrat immer wieder einmal im Gespräch für höhere Posten. Alfred Gusenbauer wollte ihn einst zum Außenminister machen und in der SPÖ sehen ihn viele, durchaus gewichtige Stimmen, als Kandidat für die Nachfolge Heinz Fischers als Bundespräsident.
Nach New Orleans hat es Petritsch in seiner ehrenamtlichen Funktion als Präsident der Austrian Marshall Plan Foundation verschlagen. Diese veranstaltete an der University of New Orleans eine Konferenz über regionale wirtschaftliche Entwicklungen in den USA und Europa ("The EU and the American South Compared"), deren Ergebnisse bald in Buchform veröffentlicht werden sollen. Wirklich weit hatte es Petritsch nicht: Seit ein paar Wochen wirkt der Kärntner Slowene als Gastprofessor für Internationale Politik an der amerikanischen Elite-Universität Harvard.
"Wiener Zeitung": Wir sitzen hier in New Orleans in Louisiana, im tiefen Süden der USA. Was haben der amerikanische und der europäische Süden gemeinsam?
Wolfgang Petritsch: Die Situation hier ist insofern interessant, als es tatsächlich Parallelen gibt. Beides sind relativ strukturschwache Regionen, in denen man vielerorts auf Ausgleichszahlungen und Förderungen angewiesen ist, auch wenn das System in den USA ein ganz anderes ist. In Europa ist von Portugal über Spanien bis Griechenland über Jahrzehnte hinweg viel Geld in den Aufbau der Infrastruktur geflossen - und das sind jetzt genau die Staaten, die in der großen Krise stecken. Ohne in diesem Zusammenhang eine Kausalität postulieren zu wollen: Was wir derzeit in der EU erleben, sollte ein Anlass sein, zu hinterfragen, ob diese riesigen Mittel nicht besser angelegt hätten werden können.
Wie konnte es so weit kommen?
Meine These ist, dass Europa zu lange an den Mechanismen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit festgehalten hat, aus der Zeit des Wiederaufbaus. Damals galt die Idee der Förderung der physischen Infrastruktur als wichtig, und das war auch lange Zeit richtig so. Früher gab es riesige Fabriken, für die eine geeignete Infrastruktur geschaffen werden musste: Schienen, Autobahnen, Flughäfen. Aber nachdem in den vergangenen Jahrzehnten entsprechende Standards geschaffen wurden, müssen wir jetzt, in der postindustriellen Ära, in andere Bereiche investieren, allen voran in Bildung und Innovation. Derzeit ist die europäische Bürokratie, wie an sich alle Bürokratien, halt immer noch mehr auf Beständigkeit angelegt als auf Nachhaltigkeit. Aus der Krise herauskommen werden wir deshalb erst, wenn sich Europa darauf verständigt, sich radikal von den alten Ideen abzuwenden.
Das klingt nach Angela Merkel.
Merkel ist eine pragmatische Politikerin, die die Zeichen der Zeit erkennt. Aber sie hat ja keinen Alleinanspruch auf diese Erkenntnis. Es gibt in diesem Zusammenhang ja auch genug intellektuellen und akademischen Input. Bei der OECD etwa hat sich längst auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass man sich vom neoliberalen Dogma verabschieden muss, weil man erkannt hat, dass manche Veränderungen für die meisten Menschen zu rasch passieren. Wovon nicht zuletzt populistische Bewegungen in ganz Europa profitieren.
Seit der Diskussion um die Anhebung des Schuldenlimits Amerikas scheint sich der Fokus der Weltöffentlichkeit weg von der Eurokrise, hin auf die politische Krise der USA verschoben zu haben.
Naja, man könnte diesbezüglich mit der Tante Jolesch sagen: "Was noch a Glück ist." Was stimmt, ist, dass im vergangenen Jahr noch die Totenglocken für Europa geläutet haben. Aber 2013 hat sich gezeigt, dass es genug Kräfte gibt, die dieses Europa wollen und dass wir auch einen elementaren Rückschlag verkraften können, wie ihn die derzeitige Krise darstellt. Was da etwa in nur einem Jahr in Sachen Bankenunion passiert ist, ist vom technokratischen Standpunkt her wirklich beeindruckend. Aber an diesem Punkt stehen zu bleiben, wäre falsch. Europa befindet sich jetzt nicht mehr in einer Situation, in der es sich, wie vor kurzem noch befürchtet, einfach abwickeln lässt. Aber es ist auch noch immer kein optimal funktionierendes Gebilde. In der Frage, wie es weitergeht, werden die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament entscheidend sein. Und nicht zuletzt die Antwort auf die Frage, ob und wie schnell sich die großen Parteien auf einen Kandidaten für den Job des Kommissionspräsidenten einigen können.
Bleiben wir kurz bei den populistischen Bewegungen, die derzeit auf beiden Seiten des Atlantiks einen Aufschwung erleben - in den USA die Tea Party, in europäischen Ländern vor allem rechtsradikale und neofaschistische Parteien. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Das hat natürlich viele, manchmal mehr, manchmal weniger landesspezifische Ursachen. Prinzipiell glaube ich, dass das alte ökonomische Modell mit der weltweiten IT-Revolution, die zwar einen massiven Innovationsschub, aber wenig Arbeitsplätze gebracht hat und bringt, endgültig an seine Grenzen gestoßen ist. In den USA zeigt sich das am fortschreitenden Niedergang der Mittelklasse, des traditionellen Rückgrats der amerikanischen Gesellschaft. Die hat jahrzehntelang nach dem gleichen Muster funktioniert: Alle paar Jahre kaufen wir uns ein neues Auto oder ein neues Haus und verschulden uns ein bisschen mehr, aber das ist okay, weil wir auch immer besser verdienen. Heute funktioniert der Mechanismus nicht mehr und das schafft Angst, und aus dieser Angst resultiert dann oft die Radikalisierung. Aber das wirklich große gemeinsame Problem in den USA und Europa ist, dass durch diese Entwicklung das Modell der liberalen Demokratie als solches in Frage gestellt wird. Von innen durch Populisten, von außen durch scheinbar erfolgreichere Modelle wie China: ein Land mit einem extrem autoritären politischen System, aber mit enorm hohem Wirtschaftswachstum. Wobei: Ich will mir nicht ausmalen, was in China künftig noch alles aufkommen wird an sozialen und ökonomischen Problemen. Die hohen Wachstumsraten überdecken viel von den inneren Konflikten dort.
Bei allem Unbehagen mit der politischen Kultur dies- wie jenseits des Atlantiks: Es scheint, dass es nie leichter als heute war, auf die Repräsentanten der großen (beziehungsweise ehedem großen) Volksparteien hinzuhauen, die Regierungsverantwortung tragen. Inwiefern muss man diese traditionellen politischen Eliten nicht auch gegen diesen Populismus verteidigen?
Das Phänomen der Anti-Politik-Politik ist kein neues. Mir scheint das Problem zu sein, dass Teile dieser politischen Eliten, obwohl sie Teil des Establishments sind, Anti-Establishment-Politik machen wollen - quasi als Zugeständnis an die Populisten. Was sie dabei offenbar nicht merken, ist, dass sie damit das Problem nur verstärken, bis hin zur Disfunktionalität des traditionellen politischen Systems. Wenn ich mir etwa die österreichische Diskussion in Sachen demokratischer Mitwirkungsrechte mittels permanenter Volksbegehren anschaue, was de facto die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie bedeuten würde, finde ich das hochproblematisch. Aber wenn man das an sich bewährte System nicht selbst - und selbstbewusst - weiterentwickelt, kriegt man halt solche Probleme.
Was sind die Ursachen dieser Vertrauenskrise im Fall von Österreich?
Krisen haben immer mehrere Komponenten, soziale, wirtschaftliche - und im Fall von Österreich halt auch eine latente Unzufriedenheit mit den herrschenden Bedingungen. Die Folge ist ein Paradoxon: Obwohl Österreich heute im Vergleich zum Rest der Welt gut dasteht, werden die Repräsentanten dieses relativen Erfolges von den Wählern abgestraft. Liegt das jetzt, quasi im Marx’schen Sinne, einfach nur am "falschen Bewusstsein" der Bürgerinnen und Bürger, oder steckt da mehr dahinter? Ich glaube, dass es daran liegt, dass die Menschen merken, dass die Zentralität des Nationalstaates nicht mehr gegeben ist. Sie sind, ob sie’s wollen oder nicht, von externen Faktoren abhängig, von der Globalisierung im Allgemeinen und, als Bürger eines EU-Mitgliedsstaats, ganz konkret von Brüssel. Rund zwei Drittel der politischen Entscheidungen, die das ganz alltägliche Leben in Österreich angehen, werden dort getroffen. Aber die politischen Eliten tun bis heute immer noch so, als ob EU-Politik Außenpolitik wäre. Auf der anderen Seite muss man die Politiker aber auch in Schutz nehmen. Sie werden national gewählt, sollen aber gleichzeitig europäisch handeln - das ist halt oft ein bisschen viel verlangt.
Auswege aus diesem Dilemma?
Man muss die Menschen schlicht und einfach aufklären - die Strukturen und Faktoren, die zu politischen Entscheidungsfindungen führen, nicht verstecken, sondern offensiv kommunizieren; die Abhängigkeiten, die es früher weniger gegeben hat, aber die es heute gibt, thematisieren, darüber reden. Ich bin aber eigentlich ganz optimistisch angesichts der Entwicklung abseits der innenpolitischen Arena. Für viele der heutigen Jungen ist Europa eine Selbstverständlichkeit. Sie haben keine Angst vor der Fremde, sind mehrsprachig, weltoffener. Die bilden den Kitt, der Europa in der Zukunft zusammenhalten wird. Was wir heute an nationalistischen Tendenzen von Österreich über Ungarn bis Griechenland sehen, stellt für mich die letzten Nachklänge des nationalistischen Zeitalters dar - das im Grunde ja auch ein zutiefst europäisches war.
Was ist Ihnen als Erstes durch den Kopf gegangen, als das Ergebnis der vergangenen Nationalratswahl feststand?
Ich war nicht überrascht. Auch wenn ich gehofft hatte, dass die FPÖ weniger Stimmen bekommt. Ich habe mich gefreut, dass die Neos reingekommen sind, auch wenn ich kein Neoliberaler bin. Es ist gut, dass es eine neue politische Kraft im Nationalrat gibt, die nicht von einem 81-Jährigen repräsentiert wird. Ansonsten: der Rückfall in eine Situation, in der die beiden ehemals großen Parteien praktisch aneinandergekettet sind und - wenn es nicht zu einer wirklichen Wende kommt - ihr Marsch in den politischen Orkus quasi vorgezeichnet ist, was natürlich nicht wünschenswert ist. Es ist halt schwierig, von denselben Personen, die für den Status quo verantwortlich sind, zu verlangen, dass sich etwas radikal ändert. Das Schlagwort von der Reformpartnerschaft gibt mir eine gewisse Hoffnung. Aber solange man nicht die Strukturen grundlegend reformiert und die Grundlagen seiner eigenen Politik nicht massiv zum Besseren ändert...
Konkreter?
Okay, vielleicht so: Einfach nur zu sagen: "Diesmal kommen wir mit weniger Ministern aus", ist zu wenig. Weniger Minister schön und gut - aber dann muss es zumindest so etwas wie politisch legitimierte und mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattete Verantwortliche geben. Der österreichische Bundeskanzler etwa hat ja, anders als in Deutschland, keine Richtlinienkompetenz. Aber er hat die wirtschaftspolitische Koordinationskompetenz. Wenn es um EU-Politik geht, muss die Entscheidungskompetenz ganz nah am Regierungschef verankert werden. Damit würde man sowohl nach außen als auch Richtung Brüssel signalisieren, dass man es ernst meint mit der Union. Da gibt’s bereits eine innovative Praxis in vergleichbaren Staaten. Wenn ich etwa mit dem Carl Bildt (schwedischer Außenminister, Anm.) oder dem irischen Außenminister Eamon Gilmore rede, merke ich, dass die das strukturell ganz anders angehen als Österreich. Klar: Was deren Länder machen, ist jetzt noch keine Blaupause für den Erfolg. Aber es wäre eine Möglichkeit, zu zeigen, dass man es mit Reformen ernst meint.
Sie waren von 1977 bis 1983 Sekretär von Bruno Kreisky. Was hätte er über die beiden neuen im Nationalrat vertretenen Parteien gesagt?
Es wäre ihm sicher irgendein beißender Spruch eingefallen. Das Team Stronach hätte er wahrscheinlich aus der Geschichte des europäischen Populismus erklärt und gleichzeitig ins Reich der österreichischen Kuriositätengeschichte verwiesen. Was die Neos angeht: Er hätte wahrscheinlich - wie damals bei den Grünen - erkannt, dass das eine politische Bewegung ist, bei der sich eine Sozialdemokratie schwer tut, sie zu inkorporieren. Wobei das bei den Grünen sicher noch stärker möglich gewesen wäre. Er hätte wahrscheinlich, anders als bei der FPÖ unter Norbert Steger - die sich eine liberale Richtung geben wollte, aber noch von Kellernazis durchsetzt war -, den "Clean Slate" der Neos anerkannt. Ich glaube, dass er sie durchaus als politische Kraft angesehen hätte, die in Österreich nötig ist. Kritische Aufmerksamkeit ist angesagt.