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Proteste gegen Mohammed-Video geben religiösen Eiferern eine Bühne, diese sind aber eine Minderheit.
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Kairo. Der mutmaßliche Produzent des Mohammed-Schmähvideos, Nakoula Basseley Nakoula, ist in Los Angeles festgenommen worden und befindet sich nun in Haft. Vor zwei Wochen hatte sich der in den USA lebende ägyptische Kopte selbst geoutet und ist nach der Befragung durch kalifornische Bewährungsbeamte untergetaucht. Er habe um sein Leben gefürchtet, gab er als Begründung dafür an. Der 55-jährige Mann war wegen Bankbetrugs ein Jahr in Haft gesessen und war im Juni 2011 freigekommen. Er könnte gegen Bewährungsauflagen verstoßen haben, indem er das Video ins Internet stellte. Seine Bewährungsauflagen enthielten unter anderem die strikte Anweisung, ohne Einwilligung eines Bewährungshelfers weder das Internet noch Computer zu benutzen.
Einige Jahre zuvor hatte der Christ aus Ägypten bereits eine Haftstrafe verbüßt, nachdem er mit großen Mengen Rohstoffen zur Herstellung illegaler Drogen aufgegriffen worden war. Ein Krimineller also, der einen an sich unbedeutenden, 14 Minuten langen Kurzfilm produziert hat, der den Propheten Mohammed verunglimpft, löste einen Flächenbrand in der muslimischen Welt aus. Mord, Brandstiftung, Straßenschlachten und selten nur friedliche Demonstrationen in fast 20 Ländern waren die Folge. Wie konnte das passieren?
Ausgerechnet der ägyptische Präsident Mohammed Mursi benannte treffsicher den Effekt der blutigen Ausschreitungen, obwohl sie auch ihm eigentlich nicht ganz ungelegen kommen könnten. Doch Mursi ist neu im politischen Geschäft und verblüfft zuweilen mit Ehrlichkeit. "Die Proteste gegen den Anti-Islam-Film lenken von den eigentlichen Problemen ab", sagte er, als er in Brüssel bei der EU um europäische Investitionen warb.
Diese braucht Ägypten dringend. Seit dem Ausbruch der Revolution im Februar 2011 ist in der Wirtschaftsstatistik ein ständiger Abwärtstrend zu verzeichnen. Der Tourismus brach um durchschnittlich 30 Prozent ein, Industriebetriebe wurden zeitweilig durch Streiks lahmgelegt, ausländische Direktinvestitionen tendieren gegen null. Da sind Bilder aus Kairo, die wütende Demonstranten beim Sturm auf die US-Botschaft zeigen und das Sternenbanner anzünden, nicht gerade verlockend für Investoren.
Überrascht von Gewalt
Auch die Banken halten sich bedeckt und sogar der Internationale Währungsfonds IWF prüft derzeit das Investitionsklima am Nil, bevor er entscheidet, ob der angefragte Milliardenkredit vergeben wird. Mag auch manch einer in Mursis Kabinett in den Ausschreitungen und der damit einhergehenden enormen öffentlichen Aufmerksamkeit eine Verschnaufpause von der wirtschaftlichen Misere des Landes empfunden haben, dem Chef selbst hat dies einen Bärendienst erwiesen. Mursi schien vollkommen überrascht, welche Lawine der Gewalt von Ägypten aus losgetreten wurde und schnell auf die anderen, zunächst meist Revolutionsländer überschwappte: Libyen, Tunesien, Jemen. Es dauerte fast einen Tag, bis der ägyptische Präsident die Ausschreitungen verurteilte.
Im Zeitalter des Internets kann ein Funke in Sekunden einen Flächenbrand auslösen. Ein widerwärtiger Film über den letzten Propheten der Muslime wird bei YouTube eingespeist - schon stehen 1500 Millionen Muslime auf, schreien dem Westen ihren Hass ins Gesicht und verlangen nach dem Blut des Regisseurs.
Aber auch wenn das Video die Gemüter der Menschen in den muslimischen Ländern bewegt, zur Tat schritt nur eine Minderheit. Akribisch hat Megan Reif, eine Politikwissenschafterin der Universität Colorado, die Zahlen derer zusammengetragen, die bisher tatsächlich an den Ausschreitungen beteiligt waren.
Nur wenige protestieren
In Ägypten haben Schätzungen zufolge 2500 Menschen gegen das Mohammed-Video protestiert. Es gibt in Ägypten etwas mehr als 80 Millionen Muslime. Im Jemen demonstrierten 2000 Menschen, in Syrien waren es 500. Aus Indien, wo die zweitgrößte muslimische Gemeinde der Welt lebt, hören wir überhaupt nichts von Protesten. Die meisten Muslime auf dieser Welt interessieren sich also nicht für jenes YouTube-Video oder finden es nicht wert, dagegen zu demonstrieren.
So haben also gewaltbereite Radikale die Szenerie der letzten Wochen beherrscht. In Ägypten waren das die Salafisten, in Libyen deutet alles auf Ansar al Scharia, einer Al-Kaida nahestehenden Organisation hin, die den US-Botschafter und drei weitere Diplomaten tötete. Auch in Tunesien und im Sudan gelten radikale Islamisten als Drahtzieher der blutigen Proteste, Pakistan und Jemen gelten ohnehin als Hochburgen Al-Kaidas. Gerade in den Ländern des sogenannten Arabischen Frühling, in denen früher Diktatoren radikale islamistische Strömungen bekämpften und sie in den Untergrund trieben, treten sie nun in Zeiten des Umbruchs deutlich zutage. Die große Herausforderung der neuen, teilweise demokratisch gewählten Regierungen ist es, mit diesen Radikalen umzugehen.