Paris - Frankreichs bürgerliche Übergangsregierung hat nun die heikle Aufgabe, die Franzosen bis zu den Parlamentswahlen vom 9. und 16. Juni von den eigenen Fähigkeiten zu überzeugen. Es geht vor allem darum, die Wahlversprechen von Präsident Jacques Chirac zu erfüllen, insbesondere in den Bereichen der inneren Sicherheit und des Dialogs mit den Sozialpartnern. Dabei kann die Regierung des liberaldemokratischen Premiers Jean-Pierre Raffarin nur Maßnahmen treffen, für die sie keine Gesetze braucht, da sie über keine parlamentarische Mehrheit verfügt.
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Gekennzeichnet war der Tag der Ernennung der Minister durch interne Streitigkeiten im konservativen Lager. Der neogaullistische Abgeordnete und Ex-Minister Nicolas Sarkozy (RPR) sah die Zeit für gekommen, selbst die Führung der Exekutive zu übernehmen. Chirac scheint es ihm allerdings noch nicht verziehen zu haben, dass er bei den Präsidentenwahlen 1995 seinen Gegenkandidaten Edouard Balladur unterstützt hatte. Nach langem Tauziehen gab sich Sarkozy dann dennoch mit einem "Super-Ministerium" für die Sicherheit zufrieden. Er wurde damit zur Nummer Zwei der Regierung. Gemeinsam mit dem delegierten Minister für "lokale Freiheiten", dem Neogaullisten Patrick Devedjian, soll der Sicherheits-Minister dafür sorgen, dass sich die Franzosen in ihrem Alltag nicht mehr bedroht fühlen.
Unzufrieden zeigte sich aber auch der zentrumsbürgerliche UDF-Chef Francois Bayrou, der sich für sein ehrbares Ergebnis im ersten Durchgang der Präsidentenwahl (6,8 Prozent) eine Belohnung erwartet hätte. "Was Herr Chirac da vorgestellt hat, ist eine Regierung seiner Freunde. Man wird aber nicht ständig einen Teil der konservativen Kräfte ausschließen können", erklärte Bayrou, dem nach eigenen Angaben gar kein Ministerium angeboten wurde.
Wenn nicht ausgeschlossen, so doch unterbewertet fühlte sich auch Philippe Douste-Blazy, Nummer Zwei der UDF. Ihm wurde das Erziehungsministerium angeboten. Er wollte mehr und beschloss letztendlich, seinen Bürgermeistersessel im südfranzösischen Toulouse zu behalten.
Während die Konservativen versuchen, unter dem Namen "Union pour la majorite presidentielle" (UMP) eine Einheitspartei zu gründen, zeigten sich bei der Regierungsbildung noch ganz klar die politischen Trennungen zwischen Neogaullisten (RPR), Zentrumsbürgerlichen (UDF) und Liberaldemokraten (Democratie Liberale/DL). Insgesamt kann man beobachten, dass vor allem dem Präsidenten Chirac persönlich nahe stehende Politiker in die Regierung aufgenommen wurden. 11 Minister gehören der RPR an, sechs der UDF, vier der DL und sechs Minister gehören keiner Partei an. Es handelt sich dabei um angesehene Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft wie etwa der Industrielle Francis Mer oder der Philosoph Luc Ferry, die mit den Ressorts Wirtschaft und Kultur betraut wurden.
Die Sozialisten kritisierten, dass es sich bei der neuen Exekutive um eine "Regierung des Präsidenten" handle. Die Gesellschaft habe in den letzten Wochen bewiesen, dass sie sich eine Politik der Öffnung wünsche. Dem habe Chirac in keiner Weise Rechnung getragen, meinte Sozialistenchef Francois Hollande. Er spielte damit auf den Umstand an, dass Chirac seine Wiederwahl mit 82 Prozent großteils auch den Linkswählern verdankt, die ihn gegen den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen (Front National/FN) unterstützt haben.
Die Grünen sprachen von einer "Regierung Chiracs, sehr männlich und stark rechts orientiert". Der Trotzkist Olivier Besancenot (Ligue Communiste Revolutionnaire/LCR) erblickt in der Regierung "eine antisoziale und allein auf die Sicherheit ausgerichtete Version der Rechten".
Raffarin wehrte sich unterdessen in einem ersten Fernsehauftritt gegen den Vorwurf, eine "Übergangsregierung" anzuführen, deren vorrangige Aufgabe es sei, dem Präsidenten eine parlamentarische Mehrheit zu verschaffen und somit eine erneute Kohabitation mit der Linken zu vermeiden. "Es ist eine Regierung der Aktion. Man handelt nicht im Unmittelbaren oder kurzfristig, man handelt notwendiger Weise langfristig", so der neue Premier wörtlich. Als erste Maßnahme kündigte er die Senkung der Einkommensteuer um 5 Prozent noch in diesem Jahr an. Mit der "Aktion" selbst wird heute, Freitag, begonnen, wenn sich der neue Ministerrat erstmals unter dem Vorsitz Chiracs versammelt.
Drei Viertel der Minister sind Kabinettsneulinge
Von den 28 Regierungsmitgliedern, die am Dienstagabend vorgestellt wurden, haben 21 zuvor noch nie einer Regierung angehört. Sechs Ministerien werden von Frauen geleitet. Im Kabinett Jospin gab es neun Ministerinnen.